Laut und Leise, Kalt und Warm
Querschnitt durchs Gemüt. Was mich gerade so bewegt.
Heute habe ich das Gefühl, mir meinen Feierabend redlich verdient zu haben. Ein stressiger Tag, ich bin froh, ihn hinter mir zu haben. Die Arbeit fing heute nicht wie üblich im Heilpädagogischen Zentrum in der Ulitsa Stroitelej an, sondern in einem kleinen Kindergarten, den das Heilpädagogische Zentrum vor ein paar Monaten eingerichtet hat und in dem am Dienstag und Donnerstag eine kleine Kindergruppe von fünf Kindern betreut wird. Der Grundgedanke ist der des integrativen Kindergartens: die Gruppe besteht aus vier gesunden Kindern und einem Mädchen mit Behinderung. Am Dienstag war ich zum ersten Mal dort, und heute sollte ich gleich die Betreuung des Mädchens Anja übernehmen. Es war schwierig. Von den anderen Pädagogen hatte ich schon erfahren, dass Anja manchmal sehr aggressiv reagiert - aus keinem ersichtlichen Grund. Diese Aggression richtet sich dann gegen Erwachsene und die anderen Kinder, wobei letztere dadurch natürlich erheblich verunsichert und verstört werden.
Dann ist es im Handumdrehen nicht nur ein hysterisches Kind, sondern gleich zwei oder drei, die heulen, und ich fühlte mich, milde ausgedrückt, überfordert, Anja zu beruhigen - ich kenne sie ja noch kaum und meine schwerfällige Zunge, die einfach nicht alles sagen kann, was sie möchte, hilft auch nicht - wie soll ich jemanden beruhigen, wenn ich selbst verunsichert bin, nicht weiß, was ich sagen und tun soll?
Ich hoffe, dass Anja sich bald an mich gewöhnt und wir ein gutes Verhältnis zueinander bekommen. Man kann ja auch nicht einfach erwarten, dass alle Kinder einen lieben - wie bei erwachsenen Menschen auch ist da mal mehr und mal weniger Sympathie im Spiel.
Trotz der Schwierigkeiten heute bin ich aber nach wie vor überzeugt, dass ich diese Arbeit machen will. Ich hab sie ja auch erst bekommen, nachdem ich meine Koordinatorin mehrfach gebeten habe, mir noch eine Arbeit zu geben, weil ich einfach nicht ausgelastet war - es waren gerade mal acht Stunden in der Woche, die ich mit Kindern arbeitete. Jetzt ist es etwas mehr, aber auf eine 35-Stunden-Woche komme ich trotzdem noch nicht. Das bereitet mir an sich nicht so viele Sorgen, aber ich will meine Zeit hier einfach gut nutzen und gern auch in verschiedene Organisationen reinschnuppern. Der NGO-Sektor ist in Russland ja noch nicht besonders ausgeprägt, die bestehenden Organisationen, die sich gegen die vorhandenen Schwierigkeiten behaupten (vor allem Finanzierung: vom Staat kommt keine oder kaum Unterstützung) lohnen folglich, dass man sich mit ihrer Arbeit beschäftigt. Als Beispiele außer dem Heilpädagogischen Zentrum (an dem übrigens noch ein halbes Dutzend weiterer Institutionen hängen, wie z.B. der oben erwähnte Kindergarten) könnte ich an erster Stelle die Organisationen meiner Kollegen hier in Moskau zu nennen: Memorial, das sich dem Gedenken an Stalin-Repressierte/
Gulag-Insassen widmet und das Holocaust-Zentrum, das der Judenverfolgung in Russland und der Sovjetunion einen Platz im öffentlichen Gedächtnis Russlands schaffen will. Diese Vergangenheiten werden hier in der Öffentlichkeit fast gar nicht diskutiert.
Außerdem bin ich vor kurzem auf einige andere, dem HPZ ähnliche Organisationen gestoßen, die hier in Moskau existieren: ich darf also meinen eigenen falschen Eindruck korrigieren, dass nur eine einzige Institution in Moskau es sich zur Aufgabe gemacht hat, die vom Staat vernachlässigten behinderten Kinder zu fördern.
Eine dieser Organisationen ist von einer Künstlerin gegründet und fußt ganz stark darauf, das kreative Potenzial der Kinder zu wecken und sie für Kunst und gestalterische Tätigkeit zu begeistern. Wer die wundervollen Bilder gesehen hat, die die Kinder dort gemalt haben, wird das Konzept kaum anzweifeln können.
Sobald ich Zeit habe, will ich dort vorbeischauen - vielleicht ergibt sich die Möglichkeit für eine regelmäßige Tätigkeit, vielleicht nicht. Aber ich will auf jeden Fall den Ort sehen, an dem diese fabelhaften Bilder entstehen - er muss eigentlich einer Oase gleichen, hier, in dieser Stadt.
In einer derart riesigen Metropole scheint mir der Egoismus und die Rücksichtslosigkeit der Menschen, zumindest wenn man ihnen auf der Straße begegnet, ausgeprägter zu sein als anderswo. Wahrscheinlich eine natürliche Reaktion: wenn man als Einzelperson hier sein Leben führen will und dabei ständig mit 15 Millionen anderen Menschen zusammenstößt, die sich in Massen durch die Stadt bewegen - ob auf der Straße, in der Metro, im Auto - kann man denn da anders, als einen Hass auf diese anonyme Menschenmasse zu bekommen? Es sind einfach viel zu viele. Gegen die Kälte und Brutalität der Massenstadt Moskau braucht man Wärme, die Wärme menschlicher Anteilnahme und Hilfsbereitschaft. Wie gut, dass es Menschen und Orte gibt, die diese Wärme ausstrahlen! Und wie gut, dass ich zufällig an einem solchen Ort arbeite! Das ist mein Glück. Viele andere haben leider nicht so viel Glück. Wie viele Menschen hier haben keinen Ort, um sich zu wärmen?
Wie immer bin ich wild von einem Thema zum nächsten gehüpft - das Ergebnis ist ein wirres Durcheinander von Fäden, auf keinen Fall ein systematisches Bild von meinem Gemütszustand. Vielleicht schaffe ich das beim nächsten Mal - aber wahrscheinlich nicht.
Es ist Advent! Auch bei mir brennt eine Kerze. Meine Wohnung fühlt sich warm und gemütlich an.
Grüße von hier
Eure Julia
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