La chambre verte: Das grüne Zimmer
Wer in der Ferne ist, sucht immer auch ein Stückchen Zuhause, meistens an dem Ort, an dem das neue Bett steht. Zwischen mintgrünen Wänden auf der Suche nach einem Lebensgefühl.
So wie Zugfester das Vorbeiziehende einfangen, so ist es der Schritt aus dem Zug hinaus, der den Vakuum-Kokon des Dazwischen durchbricht. Als ich dann in Bordeaux auf dem Bahnhof stehe, ist da kein Vakuum zum Träumen mehr, sondern hektische Menschen, Koffer und Schnellimbisse. Ich fahre zu der Adresse, die für die nächsten Monate mein Zuhause werden soll. Schon vor meiner Abfahrt habe ich das Zimmer über eine Online-Plattform (https://www.appartager.com/) gefunden. Die Zimmersuche aus der Ferne ist eine nervenaufreibende Geduldsprobe. Das liegt nicht nur daran, dass es WGs, wie sie in Deutschland üblich sind, in Frankreich eher zur Ausnahme gehören, sondern auch an den lächerlich hohen Mieten in der Stadt. Nach langem Abwägen und der ein oder anderen Pro und Contra Liste entscheide ich mich für ein Zimmer bei einer französisch-holländischen Künstlerin, die drei Zimmer ihres Hauses an Studierende vermietet. Von Fotos und Beschreibung weiß ich, es ist ein ruhiges Zimmer gemütlich, pittoresk, französisch – aber kein Ort für Absturz und Weinorgien.
Als ich dann aber vor der hellblauen Tür des kleinen Hauses stehe, fühlt sich alles noch sehr fremd an. Meine Vermieterin begrüßt mich und ich beginne den Inhalt meines Riesenkoffers in den grünen alten Schrank zu sortieren. Ich wohne im grünen Zimmer, dem chambre verte, weil seine Wände mit wunderbar weichem, mintgrünen Stoff bezogen sind. An den Wänden hängen geschmackvolle Bilder, im Bücherregal steht Simone de Beauvoir und der Kamin mit dem Mamorsims neben dem antiken Holzbett erinnert ein bisschen an ein altes Zimmer in einem kleinen Schloss. Am Abend brechen das letzte bisschen Sonne durch die alten französischen Fenster mit den weißen Rahmen.
Was mich entzaubert, sind die endlosen Regelblätter, die die Wände unseres Wohnbereiches schmücken: Regeln zum Putzen, Regeln für die Mülltrennung, Regeln fürs Zusammenlebens, Ruheregeln. Es gibt sogar eine Regel, dass nach 22 Uhr nicht mehr geduscht werden darf. Fast schon ironisch, dass man mir vor meiner Abreise immer riet, in Bordeaux die lockere französische Lebensweise zu genießen. Eins ist klar: Lärm und Bass sind hier fehl am Platz. Das war mir von Anfang an klar. Genauso sind aber auch große WG-Essen, laute Musik und Mitternachtsduschen tabu. Das macht mir ein bisschen zu schaffen, weil es genau das ist, worauf ich mich hier im Erasmus Jahr gefreut hatte – auch wenn ich auf die ein oder andere Mitternachtsdusche vielleicht doch verzichten kann.
Als ich am ersten Abend in dem Zimmer liege, was jetzt meines ist, denke ich viel darüber nach, was Zuhause eigentlich ist. Für mich waren das bisher zwei Orte: Die Wohnung meiner Eltern und meine WG in Freiburg. Aber Zuhause das ist mehr als zwei Orte, das ist vor allem ein Gefühl und die Frage: Wie möchte ich leben? Und: Wie frei kann ich sein? Denn der Mensch kann sich an vieles anpassen, an ein leises Leben genauso wie an jedes andere. Denn so schön das Zimmer auch ist, fühle ich mich hier erstmal ziemlich eingeengt von den scheinbar endlosen Regeln, die so gar nicht in mein sonst so freies Studierendenleben passen. Und davon, dass es da so wenig Platz ist, für Freunde, für Spontanes, für ein bisschen Unordnung. Doch als ich ein paar Nächte später zwischen den mintgrünen, weichen Wände liege, fühle ich mich als läge ich in meinem Zimmer: Heimelich und sicher. Denn Zuhause-Sein ist immer auch ein Prozess, der sich entwickelt. Er kommt und geht mit den Menschen, den Erlebnissen, den Freiheiten und Einschränkungen, denen man begegnet. Vor allem aber verrät er viel darüber, was für eine Person man gerade sein will. Ich frage mich wie sehr das grüne Zimmer zu der Person passt, die ich gerade sein will.
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