L'viv, czyli Breslau II
"Und das alles ist noch verworrener als es ohnehin schon aussieht." Ein Rundgang durch L'viv offenbart das komlizierte Verhältnis der Ukraine zu Geschichte und christlicher Kirche.
Samstagmorgen nach dem Frühstück (israelischer Brei, Pas'cha) gehen wir alle auf einen Spaziergang zur Kirche. Auf dem Weg steht das im Bau befindliche Denkmal Stepan Banderas. Das war der Führer der UPA, der Ukrainischen Aufständischenarmee, also der nationalistischen Partisanen. In Polen bekannt als Kriegsverbrecher, der die polnischen Dörfer ethnisch säubern ließ. In der Ostukraine als Nazi Kollaborateur während des Großen Vaterländischen Krieges. In der Westukraine Held des Unabhängigkeitskampfes.
Die Ukraine hatte ja historisch noch weniger zu lachen als Polen. Ganze drei Jahre waren sie einmal sowas wie unabhängig, damals, als sie zum polnischen-litauischen Unionsreich gehörten. Erst seit 20 Jahren stehen sie auf eigenen Füßen, mit einer deftigen ethnischen Teilung und unterschiedlichen Geschichtsversionen. Daraus muss jetzt irgendwie eine gemeinsame Identität gestrickt werden. Darum baut man Bandera zum Helden aus. Das vereint ironischerweise Russen und die nationalkatholische Presse Polens in schärfster Empörung.
Und das alles ist noch verworrener als es ohnehin schon aussieht. Nichtmal die Ost-West, Ukrainer-Russen-Trennung funktioniert. Vlads Familie kommt aus Dniepopetrowsk, also der Ostukraine. Und er ist begeisterter Anhänger, eine klare ukrainische Identität zu entwickeln. Seit vier Jahren sprechen sie daher nicht mehr Russisch, sondern Ukrainisch, und Bandera ist ein Held. Gleichzeitig hängen zu Hause Flaggen verschiedenster Länder an der Wand, auch die polnische, und niemand ist so voll Bewunderung für Polens Erfolge wie Vlad.
Babylon
Er mag L'viv, weil es hier so entspannt ist. Und das stimmt. Bereits vom Flair her, aber auch, so scheint mir, lässt man entspannt die gut gefüllten ethnischen, historischen und sonstigen Pulverfässer in Ruhe. Niemand, der die polnische Vergangenheit leugnet, alle paar Ecken ein Schild, welche polnischen König und Dichter hier waren. Und jeder spricht Polnisch. Zusammen mit Ukrainisch und Russisch und Englisch sowieso.
Vatikan
Wir erreichen die Kirche des Hl. Jura. Die ist grekokatholisch. Wie fast alle in dieser an Kirchen überreichen Stadt. Für mich war das bisher eine kuriose Minderheit. An der Kirche dreht die Familie um, denn Artem muss schlafen. Ich beginne meine eigene Tour. Durch einen Park an der Uni vorbei zum Zentrum. Viel Zeit habe ich nicht, nachmittags wollen wir uns zur Pas'cha Weihung treffen. Deshalb soll es heute nur der Marktplatz sein.
Wroclaw
Der ist wirklich wie in Breslau. Ein großes Rathaus in der Mitte, an jeder Ecke ein Brunnen. Auf den nordwestlichen setze ich mich und hole den Reiseführer raus. Vor mir ist das schwarze Haus und daneben das eines griechischen Kaufmanns, in dem der polnische König gerne wohnte. In beiden ist das Stadtmuseum, aber es ist Ostersamstag, lange kann ich nicht mehr rein. Dann geht es auf den Rathausturm meiner Höhenangst frönen.
Jerusalem
Schon ist die Zeit vorbei, ich muss zurück zu St. Jura, wo ich Vlads Familie treffe. Dort stehen Menschenmassen, eine Schlange in die Kirche und ein Kreis davor. Wie in Polen haben sie ihre Körbchen dabei, mit Pas'cha drin und weißen Deckchen drauf. Der Chor singt; schön, dass der Ritus orthodox ist; und der gut gelaunte Priester gibt auch dem Fotografen einen Extraschwenk Wasser, während er den Kreis abläuft die Körbchen zu weihen. Alle schlagen wir ein Kreuz nach dem anderen. Vlad ist dabei gar nicht gläubig. Aber er bemüht sich, zu glauben. Alle bemühen sich zu glauben. Das Bekreuzigen ist massiv wie bei Neukonvervierten. Kein Wunder. Mir scheint, bei all den Unwägbarkeiten der Transformation flüchtet man zur Religion (etwas anders als in Polen, wo die Reise zwar auch kein Spaziergang ist, aber ein klares Ziel hat und die Kirche kaum noch stärker werden konnte. Dort wird ihre Position langsam aber erkennbar geschwächt). Nicht zuletzt als Teil des Versuchs, ukrainische Identität aufzubauen. Vielleicht nicht Glauben, aber Wertschätzung für die Kirche gehört dazu. Und zwar hohe Wertschätzung, und vor allem ohne Rücksicht auf die Konfession. Vlads Familie bekreuzigt sich vor jeder Kirche, egal wie das Kreuz darüber genau aussieht.
Lodz
Nach der Weihung führt man mich zu einer kleinen Tour ins Zentrum. Dabei zeigt man mir vor allem sämtliche Kneipen. Schon die Freiwilligen in Lublin hatten mir eine ellenlange Liste gegeben und in der Tat: die Lokale mögen zwar alle der gleichen Person gehören, aber trotz Oligarchie herrscht hier ein Übermaß an Kreativität und Atmosphäre. Ich kriege Hunger... und Durst. Und nirgends bleiben wir.
Jerewan
Mit einsetzender Dämmerung führen sie mich noch in die armenische Kathedrale. Ich erinnere mich, auch in Zamosc, nicht weit von hier, bei Lublin, gehörten einige der schönsten Bürgerhäuser armenischen Händlern. Aber hier lebt die armenische Minderheit bis heute. Und ich habe keine Hemmungen, ihre Kathedrale als die tollste Attraktion der ganzen Stadt zu küren. Dunkel und Weihrauchverhangen, und die Wandmalereien... wie Comics von Jugendstilisten mit Ariertumsfantasien auf LSD. In einer Kirche von Armeniern, schwarze Augen schwarzes Haar, starren einen blonde Kirchenjünglinge fanatisch entschlossen an, mit dem Kopf Johannes des Täufers in der Hand.
Und wirklich jeder spricht Ukrainisch, Polnisch, Russisch, Englisch, hier auch noch Armenisch.
Ich gehe noch nicht mit Vlads Familie nach Hause, weil ich noch einige Minuten hier brauche... und doch noch eine dieser Kneipen ausprobieren will. Natürlich komme ich zu spät nach Hause. Aber heute sind die Straßenlaternen an.