Krankes Deutschland? - Geht reisen!
Materielle Reizüberflutung, Stress, eine lethargische Einheitsmasse. Meschen taumeln wie Zombies durch das Leben, während sie von einem Termin zum nächsten hetzen, dabei den Coffee-to-go hinunterwürgen und gleichzeitig versuchen ihr Smartphone zu checken. Wie kann Reisen und Kontakt zu anderen Menschen und Kulturen helfen?
Ein offener Brief an Deutschland gibt Einblick in die Gefühlslage eines Reisenden.
Liebes Deutschland,
wenn man reist, trifft man auf ganz verschiedene Menschen, das ist klar. Man trifft damit aber auch auf verschiedene Lebenseinstellungen, Meinungen, Werte und Träume.
Durch Reisen schafft man es, ueber den Tellerand hinauszublicken, einen WEITBLICK zu entwickeln, aus seiner geistigen EINGESCHRAENKTHEIT auszubrechen. Die Gespraeche lassen einen nachdenklich werden. Deutschland ist materiell und wirtschaftlich eines der Top-Laender der Industrie-Staaten. Trotzdem nehmen nachweislich relative Armut, psychische Krankheiten und Existenzangst zu. Was geht eigentlich ab in unserer von innen her kranken Gesellschaft?
Backpacker, die Reise vor sich. Man setzt seinen Fuss in eine neue Welt. Man geht vor die Tuer, materielle Dinge belasten einen nicht mehr. Man braucht sie nicht mehr. Ich gehe einen rauschenden Fluss entlang, barfuss. Das nasse Gras kitzelt an meinen Fuessen. Die Voegel zwitschern vergnuegt, ich weiss, sie singen fuer mich. Die Sonne scheint hell, sie erleuchtet meinen Weg. Man merkt, dass es auch anders geht, dass man auch anders LEBEN kann, BESSER leben kann. INTENSIVER.
Diese Dinge haben wir in Deutschland schon laengst vergessen, wir koennen sie nicht mehr richtig wahrnehmen, da wir an einer kompletten REIZUEBERFLUTUNG leiden. Materieller Reichtum betaeubt die Sinne. Je mehr Dinge wir in unserer Gier anhaeufen, desto mehr Angst haben wir, sie wieder zu verlieren, und das schuert Misstrauen und Boshaftigkeit. Erst, wenn man alles verliert, mit NICHTS zu LEBEN beginnt, weiss man die Dinge wieder zu SCHAETZEN, die man vorher besass. Ich habe in den letzten 3 Monaten keinen Kuehlschrank mehr gesehen. Ein Bett laenger als 1,80m? Fehlanzeige. Aber genau dann, wenn man nichts hat, wird einem BEWUSST, was wirklich wichtig ist. Man setzt seine Prioritaeten neu. In nun 8 Monaten Reisen habe ich vielleicht 20 Stunden mit dem Medium Fernsehen verbracht. Und dann zumeist BBC, um nicht ganz unwissend zu bleiben, was in der Welt passiert. Aber die ganzen Shows, Dschungel-Camp und der ganze Rotz, wozu bitte, wozu? Notgeile Menschen, die nichts besseres zu tun haben, als andere Menschen in einer unrealitischen antrophogenen Situation voyoristisch zu begaffen und sich anschliessend freuen, ein Wissen zu besitzen, dies sie mit Gleichgesinnten austauschen koennen. Und das meine ich so, lass dir die Wort einmal auf der Zunge zergehen. NICHTS BESSERES ZU TUN.
Mir hat mal jemand gesagt, dass meine Reisen und Abenteuer auf ihn wie ein Computer-Rollenspiel wirken. Ich bin der zu steuernde Charakter, der Erfahrungen sammelt und Level fuer Level aufsteigt. Und genauso fuehle ich mich manchmal, ich wuerde es als Mischung zwischen Rollenspiel und Adventure-Game beschreiben, da ich ich erst viele Quests und Raetsel loesen muss, um auf meinem Weg weiter voranschreiten zu koennen. Einige Quests tragen den Namen “Selbstfindung” oder “Springe-ueber-deinen-eigenen-Schatten”.
Wieso spielen Leute Computer-Spiele? Sie fluechten sich in eine andere Welt, dort koennen sie Helden sein, die wunderschoenen Landschaften geniessen, Abenteuer bestehen. Aber man ERLEBT nicht wirklich, man starrt am Ende doch nur auf einen Bildschirm. Geh raus, setze deinen Fuss vor die Tuer. ERFAHRE.
„Es ist eine gefährliche Sache, Frodo, aus deiner Tür hinauszugehen. Du betrittst die Strasse, und wenn du nicht auf deine Füße aufpasst, kann man nicht wissen, wohin sie dich tragen.“
(Bilbo)
Mit lethargischem Zuhause rumgehocke verschwendest du deine Zeit, das Leben ist kuerzer als man denkt. Ich gebe zu, frueher habe ich sehr gerne PS2 und PC gezockt, Final Fantasy vor allem, da dort Geschichten erzaehlt werden, die einem ans Herz gehen. Eins habe ich jedoch erfahren: MAN SELBST kann diese Geschichten erleben, man muss nicht mehr das erleben, was sich die Spielemacher ausdenken, man macht eigene Geschichte, man setzt den Fuss in die Welt und es geht los.
Das rot-gelbe Lagerfeuer am Strand des Waihi-Beaches brennt angenehm warm auf der Haut, ein Afrikaner, ein Chilene, ein Jamaikaner, ein Suedkoreaner und ein Deutscher sitzen am Strand, spielen Gitarre, singen Lieder auf Franzoesisch und beobachten die Sterne. Der Deutsche bin ich. Ich koennte heulen, wenn ich daran denke, wie schoen es war, Menschen aller Welt sitzen zusammen, keine Vorurteile, keine Diskriminierungen, alles was zaehlt ist, dass man in genau DIESEM Moment zusammen an DIESEM Ort ist und das Leben geniesst. Haette ich eine PS3, ich wuerde sie gegen ein Flugticket eintauschen.
Ich habe hier zum aller ersten Mal erlebt, was wahre Freiheit bedeutet. Viele Menschen werden es vielleicht in ihrem ganzen Leben nicht erfahren. Lebt man acht Monate einen ganz anderen LEBENSTIL, fragt man sich ernsthaft, ob man wieder in sein altes Leben zurueckfinden will. In einer Gesellschaft, in der der einzelne nichts wert ist, Menschenmassen abhaengig von Online-Communities der Welt beweisen muessen, wie toll sie sind, um ihr Ego zu pushen, Egoismus wohin man nur schaut, jeder ist sich selbst am naechsten, Naechstenliebe? Nie gehoert, ey alter, das hier ist Deutschland.
Mit durchschnittlich 7000 Werbemeldungen werden wir jeden einzelnen Tag bombardiert. MANIPULATION?! Keiner fragt mehr, wenige kämpfen noch. Aufgegeben. Vielleicht früher mal. Eine lethargische Masse, ein Einheitsbrei, der mit Scheuklappen gespickt durch das Leben rennt, immer gehetzt, immer voller STRESS.
„Erkenne dich selbst“, beschwört Sokrates die Menschen. Heutzutage guckt der Mensch voller MISSTRAUEN einmal kurz in den Spiegel der Selbsterkenntnis, befindet es abwertig als Zeitverschwendung, rennt gehetzt zum Steuerberater und würgt im Laufen einen Becher Kaffee hinunter.
Dies kann man nicht nur Deutschland anhängen, sondern allen Industriestaaten. Die Globalisierung und der technische Fortschritt haben die Menschen auf der einen Seite unabhängiger, auf der anderen Seite zu Arbeits-Nomaden gemacht. Die wirtschaftliche Lage lässt keine langfristigen Verträge mehr zu, der WERT der klassischen Familie sinkt extrem, die EXISTENZANGST steigt ins Unermessliche.
War man bisher nur in seinem eigenen Land, hat dort gelebt, hat man keinen VERGLEICHSWERT. Wie ist es woanders? Kann ich auch anders leben? Muss ich so leben, wie ich gerade lebe? Noch ein paar Tage, dann darf ich good old Germany wieder hallo sagen. Jedoch kritischer als je zuvor, Germany, i’ll be watching you.
Mit freundlichen Grüßen,
Julian Hölgert
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