Kocham Olsztyn!
Nun, wo wir auf den Sommer, die schönste Jahreszeit in Warmia und Mazury, warten, wird es Zeit für mein beschauliches Olsztyn als Reiseziel zu werben.
Olsztyn ist die Hauptstadt der nordöstlichen Woiwodschaft Warmia i Mazury und mit knapp 175.000 Einwohner auch die größte Stadt der Region – also ein guter Startpunkt für Ausflüge ins Ermland (Warmia) oder zu den masurischen Seen (Mazury).
Das Gebiet gehörte bis Ende des Zweiten Weltkriegs zu Ostpreußen und hieß bis dahin Allenstein. Die Alle (Łyna) ist ein kleiner Strom, der sich um die Altstadt windet. Aufgrund seiner Geschichte kommen viele deutsche Urlauber zu Besuch, die auf der Suche nach Vorfahren auch häufig im Archiv vorbeischauen. Nach meinen Eindrücken und Erfahrungen finde ich, dass von polnischer Seite sehr bewusst, offen und differenziert mit der Vergangenheit umgegangen wird. Das liegt vielleicht auch daran, dass sich das Zugehörigkeitsgefühl der Bewohner schon immer eher auf die Region als auf die Nation bezogen hat.
Touristen sind in Warmia und Mazury sehr willkommen, da sie für die wirtschaftlich schwache Region eine wichtige Einnahmequelle darstellen. Hier gibt es keine nennenswerte Industrie, die Arbeitslosenquote liegt über dem Landesdurchschnitt – das beschützt aber gleichzeitig den größten Schatz der Umgebung: die Natur.
Allein im Stadtgebiet von Olsztyn befinden sich elf Seen. Sommers sind sie gut mit dem Rad zu erreichen, winters kann man dank wochenlanger Minusgrade über große Eisflächen spazieren. Doch am Kortowo-See trifft man beispielsweise täglich junge Menschen, da er an den Unicampus grenzt und ein beliebter Erholungs- und Partytreffpunkt für die knapp 30.000 Studenten ist. Kortowo liegt etwas außerhalb des Stadtzentrums, ist aber zu Fuß gut zu erreichen – wie sich auch alles Sehenswerte leicht erlaufen lässt.
Mein morgendlicher Arbeitsweg führt mich an fast allen wichtigen Punkten Olsztyns vorbei.
Wir Freiwilligen wohnen in der Warszawska, die für Auswärtige etwas verwirrend ist, weil sie teilweise als Durchgangsstraße ausgebaut wurde, aber der „alte“ Abschnitt für Autos nur von der Altstadt aus zu erreichen ist. Allein dieses kleine Stück Stara Warszawska (auch der Name eines beliebten Pubs hier) würde Stoff für eine Fernsehserie bieten. Vor unserem Haus entwickelt sich jeden Nachmittag ein Verkehrschaos, wenn die Schüler der English Perfect School (DIE Sprachschule in Olsztyn, die allerdings auch für ihre Preise bekannt ist…) hingebracht oder abgeholt werden. Reger Taxiverkehr herrscht auch, da sich die arabischen Medizinstudenten direkt vor der Uniklinik abliefern lassen. Im Nachbarhaus finden im Pub Beczka häufig Konzerte statt, keine hundert Meter weiter kann man sich in der Stara Warszawska durch die größte Vielfalt an Biersorten probieren. Und mit ein paar Schritten, mit den man die Łyna überquert, gelange ich auf die Prosta, die ihrem Namen entsprechend einmal grade durch die Altstadt führt.
Auf dem Marktplatz befindet sich das Alte Rathaus (Stary Ratusz), in dem jetzt eine gut ausgestattete Bibliothek eingerichtet ist. Rechterhand überragt der Turm der Jakobskirche die kleinen Altbauten, dank des Namenspatrons ist auch der Jakobsweg mit Muschelsymbolen für Pilger in ganz Olsztyn ausgeschildert. Links erblicke ich die evangelische Kirche und das Schloss (Zamek) mit einer Bronzeskulptur des berühmtesten Bewohners davor: Nikolaus Kopernikus wohnte und forschte hier im Auftrag der Ermländischen Bischöfe. Neben wechselnder Ausstellungen mit Regionalbezug kann man im Schlossmuseum eine von Kopernikus handgefertigte Tafel zur Berechnung der Tag-und-Nachtgleiche bewundern.
Am Marktplatz steht auch das Geburtshaus eines berühmten Sohns der Stadt. Eine Gedenktafel erinnert an den jüdischen Architekten Erich Mendelsohn, der hier 1887 als fünftes Kind eines Kaufmanns das Licht der Welt erblickte – die kaufmännische Tradition hält sich in diesem Gebäude, Rossmann hat hier eine seiner unzähligen Filialen.
Die restlichen Gebäude am Marktplatz beherbergen vor allem kulinarische Angebote wie eine Pierogania oder das HouseCafé (welches DER Treffpunkt für internet- und kaffesüchtige Studenten mit entsprechendem (ausländischen) Geldbeutel ist). Aber auf der Suche nach einem guten Mittagessen oder einem Feierabendbier lohnt sich auch ein Blick in die Nebenstraßen. Dort findet man eine Filiale des ebenso preiswerten wie leckeren GreenWay oder eine schöne Karaokebar (im „Revolver“ sogar mit Live-Band) – meist führt der Weg aber zum Fischmarkt in den Irish Pub.
Das andere Ende der Altstadt wird vom Hohen Tor (Wysoka Brama) begrenzt; ein Backsteinbau, in dem beim Sonnenaufgang ein vom Papst gestiftetes Marienmosaik golden blinkt. Man kann sich dort sogar in einem Hotel einmieten, wovon ich nicht wegen der Ein-Sterne-Qualität abraten würde, sondern wegen der niemals endenden Baustelle davor. Gerne würde ich noch den Tag erleben, an dem ich das Tor durchquere und nicht immer bloß drum herum laufe, aber da bei den Bauarbeiten eine sehr alte Brücke entdeckt wurde, dauern die Restaurationsarbeiten wohl noch ewig.
Am Neuen Rathaus (Nowy Ratusz) kann man beim Warten an einer der unverständlichsten und nervigsten Ampeln überlegen, ob man die Straßenseite wechselt, um im Einkaufszentrum Aura eine Shoppingtour bei den üblichen Ketten zu machen oder ob man nach links abbiegt. In der Straße des 1. Mai wurde 2013 nach langen Renovierungsarbeiten das Theater im. Stefana Jaracza (Achtung, das ist die schöne polnische Deklination; es handelt sich beim Namensgeber um einen Mann) wiedereröffnet.
Für meinen morgendlichen Weg zum Archiv biege ich meist erst in die zweite Straße links ein, die den unaussprechlichen Namen Dąbroszczaków trägt. Ich laufe neben einigen prächtigen Bürgerhäusern am städtischen Kulturzentrum MOK– hier finden Theateraufführungen, Lesungen und Konzerte statt – und dem polnisch-französischen Zentrum mit seiner französischsprachigen Bibliothek vorbei.
Wenn ich meinen Arbeitsplatz in der Partyzantów 18 erreicht habe, endet auch schon der sehenswerte Teil Olsztyns, da die Straße zum Haupt- und Busbahnhof führt. In meinen Augen ein absoluter Schandfleck der Stadt, ich rate also Zugreisenden dringend dazu, lieber schon am Westbahnhof (Zachodni) auszusteigen. Das ist für uns viel näher und auf dem Nachhauseweg kann man immer im Büro unserer Aufnahmeorganisation Borussia vorbeischauen. Nach langwieriger Arbeit konnte die Kulturgemeinschaft ihre neuen, geschichtsträchtigen Räumlichkeiten am jüdischen Friedhof beziehen. Leider sind keine Grabsteine mehr erhalten, dafür aber die Bet Tahara. Dabei handelt es sich um ein Leichenhaus für religiöse Waschungen. Das hört sich etwas gruselig an, aber die freigelegten Mosaike sind wunderschön und Borussia veranstaltet dort viele Seminare und Projekte. Es handelt sich dabei auch um das einzige Werk Mendelsohns in seiner Geburtsstadt.
Da mein kurzer morgendlicher Weg schon ausreicht, um einen Eindruck von Olsztyn zu gewinnen, lade ich herzlich dazu ein, die Stadt bei Sonnenschein und einem der zahlreichen Sommerevents zu besuchen. Im Mai ist Olsztyn Gastgeber eines der größten Studentenfestivals Polens, der Kortowiada, während der Ferien bieten sich im Kultursommer für jeden Geschmack Konzerte an oder man wird lieber bei den kostenlosen Outdoor-Sportangeboten aktiv. Alles Möglichkeiten, um in dieser kleinen, feinen Stadt schnell neue Kontakte zu knüpfen!
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