Kinder, Kinder
Nicht immer ist das Ziel Europäischer Freiwilliger auch ein Land in Europa. In wenigen Fällen kann dies auch ein Land außerhalb der Europäischen Union bedeuten. Wie bei claudil, die acht Monate in Israel lang die Sonne und anderen Lebensumstände genossen hat.
Ich schaue aus dem Fenster. Der Himmel ist von hellgrauen Wolken bedeckt, und die Sonne hat es heute noch nicht geschafft, sich ihren Weg hindurch zu bahnen. Im Moment kommt es mir komisch vor, aber direkt saust mir dir Antwort durch den Kopf: “Ich bin wieder in Deutschland“.
Für mich war der durchgehende Sommer, die teils unerträgliche Hitze und jeden Tag Sonnenschein in den acht Monaten in Israel schon zur Gewohnheit geworden. Man gewöhnt sich so schnell an die verschiedenen Umstände, dass sie einem direkt wieder fehlen, wenn sie plötzlich nicht mehr Bestandteil des ganz normalen Alltags sind.
Ich bin nun wieder in meiner Heimat, kann selbst nicht glauben, wie schnell die Zeit vergangen ist, stelle fest, dass sich im Wesentlichen nicht viel geändert hat, vermisse Israel, stehe am Anfang eines neuen Lebensabschnittes und bin tierisch aufgeregt, weil bald die Uni anfängt.
Rückblende
Vor acht Monaten habe ich mir darüber noch überhaupt keine Gedanken gemacht, weil alles so weit entfernt war. Damals hatte ich nur eines im Sinn: Mein Freiwilligendienst in Israel!
Mein Reiseziel Israel hatte sich nicht nur, wie viele jetzt vielleicht vermuten könnten, durch mein großes Interesse am geschichtlichen, kulturellen, politischen und religiösen Geschehen realisiert, sondern vielmehr, und auch ganz einfach deshalb, weil mein argentinisch-jüdisch-israelischer Freund, mit dem ich damals schon fast zwei Jahre zusammen war, in Israel wohnt.
Die Möglichkeit, nach Israel zu reisen, dort in sozialen Einrichtungen zu arbeiten, mit Freiwilligen aus anderen Ländern in einer Wohngemeinschaft zu leben, monatlich Taschengeld zu erhalten und jedes Wochenende mit meinem Freund, den ich wieder mal vier Monate lang nicht gesehen hatte, zu verbringen, war für mich natürlich einmalig. Da ich sowieso schon einmal in den Ferien in Israel gewesen war und fünf Wochen Zeit hatte, dieses vielfältige Land zumindest ansatzweise zu erkunden und zu verstehen, wusste ich auch in etwa, worauf ich mich einließ.
Natürlich versuchten viele Leute mir die gefährliche Situation des Nah-Ost-Konflikts bewusst zu machen. Die einen versuchten es etwas vorsichtiger: “Hast du denn schon mal darüber nachgedacht, dass vielleicht…..”, die anderen ziemlich direkt: “Ja, dann viel Spaß. Hoffe mal, dass du lebend zurückkommst!”. Ich kann nicht behaupten, dass mich diese Kommentare unbewegt gelassen hätten. Und natürlich hatte ich mir auch selbst schon genug Gedanken über diesen Gesichtspunkt gemacht. Aber der Reiz der Ferne, die Neugierde, die Sehnsucht nach neuen Eindrücken, der Wille, von dieser fremden Kultur etwas zu lernen und die vielen Erfahrungen, die dort schon auf mich warteten, ließen mich dann – überzeugt davon, die richtige Entscheidung getroffen zu haben – am 2. Januar in den Flieger Richtung Tel Aviv einsteigen.
Ankunft in Israel
In Israel angekommen war dann natürlich alles anders, als ich es erwartet hatte. Aber das ist ja immer so. Die ersten Tage blieb ich bei meinem Freund in Hadera, was etwa eine halbe Stunde nördlich von Tel Aviv an der Mittelmeerküste liegt. Anschließend trat ich dann die Reise zu meiner Einsatzstelle in Kfar Vradim, was übersetzt Rosendorf heißt, an.
Die Anreise war erstmal grauenvoll, weil ich so aufgeregt war und nicht richtig wusste, wo ich eigentlich hin musste. Ich nahm den Zug an der Küste entlang, Richtung Norden, bis zur Endstation Naharia. Im Zug war ich fast ausschließlich von Soldaten meines Alters umgeben, die alle ihren zwei- oder dreijährigen Wehrdienst ableisteten. Es war Sonntag, in Israel also der erste Wochentag, und alle waren in ihren dunkelgrünen Uniformen, demonstrativ ihre Waffe zeigend, auf dem Weg zu ihren Einsatzstellen.
Von Naharia aus nahm ich ein Taxi und kam eine halbe Stunde später in Kfar Vradim an. Die Landschaft in Westgaliläa, wo Kfar Vradim liegt, hat mich stark beeindruckt. Alles war so grün, überall sah ich Olivenbäume und kleine Dörfer, die hoch oben auf den Bergen lagen. Kfar Vradim war eines dieser Dörfer und war mit seinen 5000 Einwohnern recht übersichtlich. So war es nicht schwer, mein neues Zuhause für die nächsten acht Monate zu finden. Die anderen Freiwilligen, davon zwei aus Deutschland und zwei aus Österreich, waren schon seit einem Monat dort, und ich wurde sehr nett empfangen. Das Haus war sehr schön und groß, und ich fühlte mich ziemlich wohl.
Projekt? Welches Projekt?
In den nächsten Tagen lernte ich dann unsere Organisatoren, Betreuer, meine Gastfamilie sowie Kfar Vradim und seine Umgebung kennen. Die Leute waren sehr nett, wenn unser Organisator auch einen ziemlich unorganisierten Eindruck machte. Anscheinend fand das Projekt, für das ich mich eigentlich beworben hatte, gar nicht statt. Es war auch gar nicht mehr die Rede davon. Wenn man ihn darauf ansprach, wurde nach irgendwelchen Ausflüchten und unlogischen Erklärungen gesucht.
Obwohl ich natürlich schrecklich enttäuscht war, hatte ich noch Hoffnungen, dass man für mich ein anderes sinnvolles Projekt finden würde. Alle anderen Freiwilligen waren schon in anderen Einsatzstellen untergebracht. Nur ich saß alleine zu Hause und war ziemlich frustriert, weil sich auch keiner um mich zu kümmern schien.
Nachdem ich dann anfing, etwas Druck zu machen, sagte man mir, ich könne in der Basketballabteilung mithelfen. Dummerweise hatte man bei dieser Idee nicht beachtet, dass ich noch immer mit einer riesigen Schiene am Bein humpelnd herum lief, da ich erst zwei Monate zuvor am Kreuzband operiert worden war, nachdem ich mich bei einem Basketballspiel verletzt hatte. Aber gut, immerhin war es einen Versuch wert.
Ich ging also zum Basketballtraining der fünf bis 13-Jährigen und musste ziemlich schnell feststellen, dass ich dort aufgrund der nicht vorhandenen Hebräischkenntnisse nicht viel, oder eher gesagt gar nichts machen konnte. Nachdem ich mich mehrmals beschwert hatte, schickte man mich in die Grundschule von Kfar Vradim, wo man mich dann erstmal fragte, was ich denn machen könne. Das führte dazu, dass ich mich mit den Kunst- und Englischlehrerinnen zusammen tat.
Startschwierigkeiten
Die ersten Wochen waren für mich sehr schwierig, weil ich dass Gefühl hatte, dass keiner so richtig wusste, wofür ich da war, und wie ich mich ohne Hebräisch zu können überhaupt nützlich machen könnte. Ich hatte zwar bereits ein paar Hebräischstunden besucht und mir auch in Deutschland ein paar Wörter angeeignet, aber das reichte natürlich noch lange nicht, um sinnvolle Tätigkeiten auszuführen.
Am Anfang verbrachte ich viel Zeit im Lehrerzimmer, wo mich auch eigentlich keiner wirklich beachtete, und trank viel zu viel Kaffee. Das Problem war, dass mich in der Schule keiner erwartet und mich auch keiner vorgestellt hatte. Somit wussten viele nicht, wer ich war und warum ich nichts sagte und nichts machte. Mit der Zeit sprachen mich dann einige an, und nach und nach begriffen sie, warum ich dort herumsaß. Zuerst musste ich wirklich nach Tätigkeiten suchen und mich einfach an die Lehrer hängen, bis dann auch endlich mal nach einigen Wochen Ideen von Ihnen kamen.
Plötzlich stellten sie dann fest, dass ich ja doch ganz gut zu gebrauchen war, und ich bekam sogar eine eigene Gruppe von englischen Muttersprachlern, mit denen ich mehrere Stunden in der Woche an einem Computerprojekt arbeitete. Ich war sehr glücklich, dass ich nun endlich eine etwas anspruchsvollere Tätigkeit als Kaffe trinken hatte. Und ich war vor allem froh, dass ich mich mit den Kindern problemlos auf Englisch verständigen konnte. Mit dieser Gruppe von sechs Kindern arbeitete ich bis zum Schluss meines Freiwilligendienstes, und ich habe sie alle richtig ins Herz geschlossen.
Endlich sinnvolle Tätigkeiten! Die Grundschule von Kfar Vradim: Israelisch-jüdische Kinder
Mit der Zeit bekam ich immer mehr Aufgaben. Nachdem ich dann mühevoll gelernt hatte, wie man mit einem hebräischen Computer fertig wird, konnte ich nun auch Informationen und Unterrichtsmaterialien für die Lehrer aus dem Internet suchen. Ansonsten ging ich mit den Englischlehrerinnen in den Unterricht, und sie schickten mich mit den leistungsschwächeren Schülern nach draußen, wo ich ihnen bei den Aufgaben half. Manchmal half ich auch den Kunstlehrerinnen bei praktischen Arbeiten wie Dekorieren, Malen, Ausschneiden und den Unterricht vorzubereiten. Nach der Schule blieb ich noch eine Stunde länger und half einigen Kindern bei den Englischhausaufgaben.
Insgesamt war es eine sehr schöne und kreative Arbeit, wenn es auch manchmal anstrengend war, die ganze Zeit mit kleinen Kindern zusammen zu sein. Mit der Sprache war es am Anfang sehr schwer, doch nach einigen Monaten war ich in der Lage, mich zu verständigen. Die Lehrerinnen wurden mit der Zeit auch immer offener und freundlicher. Zu denen, mit denen ich hauptsächlich arbeitete, baute ich ein sehr enges und freundschaftliches Verhältnis auf und freute mich zu sehen, dass sie meine Arbeit schätzten, und ich ihnen wirklich helfen konnte.
Und was ist mit nachmittags? Maksam: Äthiopisch-jüdische Kinder
Nachdem ich einige Zeit in der Schule gearbeitet hatte stellte ich fest, dass es mir nicht reichte, nur morgens zu arbeiten. So fragte ich meinen Organisator, ob er nicht vielleicht Kontakte zu sozialen Einrichtungen in Hadera, wo mein Freund wohnt, hätte. Zu meinem Glück vermittelte er mir dort eine Arbeit in einer Bildungseinrichtung für Äthiopier. Ich war überglücklich, da ich hier nun donnerstags und sonntags ein paar Stunden arbeiten konnte, und somit von Donnerstagnachmittags bis Montagmorgen in Hadera bei meinem Freund sein konnte.
Mein Organisator gab mir also die Adresse vom “Maksam“, so hieß nun meine zweite Arbeitsstelle in Hadera, und ich machte mich auf die Suche. Je näher ich meinem Ziel kam, desto ärmlicher wurde auch die Gegend. Und ich stellte fest, dass ich so ziemlich die einzige Weiße war, die in diesem Viertel mit suchendem Blick umherirrte. Ich sah viele schwarze Kinder in den Straßen spielen und herumlaufen, aber auch ältere Leute in bunte, afrikanische Tücher gehüllt.
Es war nicht einfach, das Maksam zu finden, denn es lag hinter einem großen, weißen Wohnhaus versteckt. Auch der kleine schäbige Eingang sah nicht gerade so aus, als könnte man hier nun eine Bildungsstätte betreten, und mir stieß ein stechender Geruch in die Nase. Als ich dann aber eingetreten war, überraschten mich die fröhlich bunten Wände, die mit Papierschmetterlingen und anderen Bildern verziert waren.
Auch hier wurde ich sehr nett von meiner neuen Chefin empfangen und sofort in die Arbeit eingewiesen, die darin bestand, den äthiopischen Kindern bei den Englisch- und Mathehausaufgaben zu helfen und mit den Jüngeren zu malen oder sich Bücher anzuschauen (zum Lesen hat mein Hebräisch leider noch nicht gereicht). Im Sommer arbeitete ich im Maksam für drei Wochen in einem Sommercamp und half bei der Bändigung einer 22-köpfigen Gruppe Zehnjähriger sowie bei den Vorbereitungen für Aktivitäten. Hier war die Arbeit ganz schön anstrengend, da wir insgesamt 150 Kinder dabei hatten, die in Gruppen mit jeweils zwei Betreuern aufgeteilt wurden. Aber es war ein lustiges Gefühl, als einzige Weiße unter so vielen Äthiopiern zu sein. Ich habe zumindest mal einen Einblick bekommen, wie sich ein Schwarzer in Deutschland fühlen muss.
Mehr noch – Das drusische Kinderheim: Arabisch-israelisch-drusische Kinder
Obwohl ich nun zwei Arbeitsplätze gefunden hatte, fühlte ich mich mit den recht wenigen Arbeitsstunden noch immer nicht ausgelastet. Daher beschloss ich, nun auch einen Nachmittag in der Woche meine österreichische Mitbewohnerin zu ihrer Arbeitsstelle zu begleiten. Sie arbeitete in einem kleinen arabischen Nachbardorf in einem drusischen Kinderheim.
Ich fand es sehr spannend, neben israelisch-jüdischen und äthiopisch-jüdischen nun auch arabisch-israelisch-drusische Kinder und ihre Lebensarten kennen zu lernen, die sich natürlich schon allein durch die arabische Sprache von den anderen unterschieden. Zum Glück lernten die Kinder hier aber auch Hebräisch in der Schule, und ich musste mir nur die einfachsten Wörter auf Arabisch aneignen.
Das Kinderheim war sehr schön organisiert, denn jeweils zehn Kinder lebten in einem großen Haus mit einem Ersatzelternpaar zusammen. Somit war eine sehr familiäre Atmosphäre für die Kinder gesichert. Meine Freundin und ich gingen nachmittags dort hin und beschäftigten uns mit den Kindern, wenn sie aus der Schule kamen. Wir setzten uns mit ihnen hin, aßen gemeinsam zu Mittag, halfen bei den Hausaufgaben, spielten, malten und anderes, was Kinder halt sonst noch gerne tun.
Die Kinder waren sehr glücklich darüber, endlich mal so viel Aufmerksamkeit zu erhalten, und waren ganz eifrig dabei, uns ihre arabischen Volkstänze beizubringen und uns stolz ihren kleinen Streichelzoo zu zeigen. Manchmal war der Umgang mit den Kindern etwas schwierig, weil sie eben doch größtenteils keine einfache Kindheit in ihren leiblichen Familien erlebt hatten. Allgemein waren sie aber sehr offen uns gegenüber, und für sie war es sicherlich auch ein besonderes Erlebnis uns Europäerinnen, die wir aus so einem anderen Kulturkreis stammen, kennen zu lernen. Dass meine Freundin und ich uns an bestimmte Regeln halten mussten, wie keine Ohrringe oder Piercings und keine kurzen oder weiter ausgeschnittenen T-Shirts zu tragen, daran gewöhnten wir uns recht schnell.
Fazit: lohnend und schön
Insgesamt kann ich zu meinem Freiwilligendienst in Israel sagen, dass ich sehr froh bin, die Möglichkeit gehabt zu haben, eine solche Vielfalt an Kulturen näher kennen zu lernen. Für mich war es sehr interessant, aktiv in den einzelnen Einrichtungen mitzuwirken und von den Leuten zu lernen. Gerade Israel besitzt durch russische, europäische, äthiopische, lateinamerikanische und amerikanische Einwanderer eine so große Vielseitigkeit, dass man nicht nur das Gefühl hat, Israel kennen gelernt zu haben, sondern viele Teile der Welt. Es ist unglaublich, dass sich in so einem kleinen Land, umgeben von arabischen Ländern, so viele Nationalitäten und Religionszugehörigkeiten, Mentalitäten und Lebensarten in einer Sechs-Millionen-Bevölkerung vereinen.
Durch meinen jüdischen Freund, der mit seiner Familie seit 13 Jahren in Israel wohnt, habe ich natürlich auch sehr viel über die israelische Mentalität und deren Sicht auf die Welt erfahren. Ich habe viel über andere Sichtweisen und Einstellungen gelernt und bin froh, Europa und seine Geschichte mal aus einem anderen Blickwinkel betrachtet zu haben.
Natürlich war es für mich nicht immer einfach, als Deutsche in Israel zu sein. Obwohl nur wenige Leute die deutsche Geschichte und den Holocaust ansprechen, so ist einem immer klar, dass das Geschehene in den Köpfen tief verankert ist und somit auch die Einstellung zu Deutschland beeinflusst. Ich bin oft mit dem Thema direkt oder indirekt konfrontiert worden. Allgemein kann ich sagen, dass der Großteil der Israelis uns sehr offen und vorbehaltlos gegenüber getreten ist, was mich sehr glücklich macht. Der Aufenthalt in Israel hat mir die deutsche Vergangenheit sehr viel näher gebracht, als es die Geschichtsbücher, die wir über Jahre in der Schule gelesen und besprochen haben, jemals getan haben. Denn das Zusammenleben mit Juden aus aller Welt und die Gespräche mit ihnen haben mir einen sehr persönlichen Eindruck vermittelt. Ich bin sehr froh, dass wir deutschen Freiwilligen den Israelis einen Einblick in das heutige Deutschland und dessen tolerante und offene Einstellung ermöglicht haben.
Ich persönlich kann den Europäischen Freiwilligendienst nur weiterempfehlen. Selbst wenn es nicht immer einfach ist, sich in der Fremde zurecht zu finden, und man oft am liebsten wieder nach Hause in die gewohnte Umgebung zurück möchte, weil dort alles viel einfacher ist, so ist es doch eine einmalige Erfahrung, die einem ganz neue Perspektiven ermöglicht und einem die Gewissheit gibt, ein kleines Stück mehr von der Welt gelernt zu haben.