Kein Schnee in Madrid
Neun Monate in Madrid hautnah - ein Exkurs in eine europäische Metropole, der mich neugierig auf mehr Europa machte. Was bedeutet Zuhause und was ist Heimat? Eine Gefühlskurve von Extremen.
Dieses „Sofort-auf-DU-sein", dieses „Jedem-zwei-Küsschen-auf-die-Wange-drücken", dieses „Gleich-amigos-werden". Herzlichkeit, Unverbindlichkeit und ja - fast schon eine gewisse Schamlosigkeit und trotzdem irgendwie sympathisch. Verwirrung und Orientierungslosigkeit, eindeutige Symptome der Anfangsfremde.
Mein Zuhause war jetzt eine deutsch-französisch-spanische Wohngemeinschaft im Zentrum von Madrid. Die riesige Wohnfläche wurde spärlich bekleidet von drei Matratzen, einem defekten Fernseher und einem Kühlschrank, der versehentlich im Wohnzimmer platziert wurde. Es fehlte an allem, auch an Vertrautheit. Selbst das Internet, der Helfer in der Not mit Draht zu Familie und Freunden und seinen vielseitigen Ablenkungsoptionen, war tot, und so musste Einsamkeit mit alleine sein überbrückt werden.
Die Hitze im September war feucht, der Metroschacht wurde zur Sauna, und die einzige Erfrischung schenkten Ventilatoren und Klimaanlagen. Daraus folgte Halsentzündung Nr. 1, der erste Arztbesuch verlief mies. Mein selbstausgedruckter Versicherungswisch war hier nichts wert. Selbst wenn ich ein hilfreiches Papier im Portemonnaie gehabt hätte - mit meinem Bröckchenspanisch hätte ich es nie in Erfahrung gebracht. Meine Bilanz nach drei Wochen war ernüchternd: Halsschmerzen, gravierende Kommunikationsprobleme, immer noch kein Internet. Ich fühlte mich wie ein gescheiterter Tourist, hatte die Madrid Highlights mit Reiseführern abgearbeitet und fotografiert, aber würde keine Postkarte schicken und auch keinen Rückflug nehmen. Immer noch fremd. Und jetzt?
Sich sammeln und aufraffen. Mein Schulspanisch sollte sich mit einem Sprachkurs zu brauchbarem Spanisch entwickeln. Ich begriff, dass nach einem „Vale, Vale" (Gut, gut) nie Nachfragen gestellt wurden. Mit „osea" (also) wirkte plötzlich jede Vokabellücke eloquent. Mein Freundeskreis wurde ein interessantes Ländergemisch aus Dänemark, England, Frankreich, Spanien und Deutschland. Deutschreden blieb ein kleines Stück Freiheit, einfach sagen können, was man will und nicht das, wofür der Vokabelschatz reicht. Ich besuchte meine ersten Salsaklassen, bestellte „café con leche" und verabredete mich um 22 Uhr zum Abendessen. Der Integrationsprozess hatte begonnen.
Der Gedanke „in Deutschland hätte man jetzt..." meldete sich nicht mehr automatisch. Beim Schlendern durch die Innenstadt schielte ich nur noch heimlich auf den Stadtplan in meiner Handtasche. Wurde meine Bestellung auf Englisch abgefragt, reagierte ich beleidigt. Ich fühlte mich Touristen überlegen, die nach „Paela" fragten oder auf die überteuerten Restaurants am Plaza Mayor reinfielen und beendete die großzügige deutsche Trinkgeldgabe. Mein Facebook Fotoalbum nannte ich „madridmiciudad" (madridmeinestadt).
Durch meine Zeit in Madrid und das Sammelsurium an Begegnungen mit jungen Leuten anderer Nationen bekam ich eine Idee davon, was Europa für mich bedeutet. Europa ist für mich eine große Patchworkfamilie, ein Flickenteppich aus 28 verschiedenen Ländern, Kulturen und Geschichten. Und: von Kulturschock keine Spur. Im Gegenteil war jede Abweichung, jeder Unterschied in der Lebensart zwischen Spaniern und Deutschen für mich interessanter als all das, was wir ohnehin schon gemeinsam hatten. Ganz anders bei meiner indonesischen Freundin. Sie hätte in Madrid gerne eine Parallele zwischen ihrer und der spanischen Kultur gefunden. Das Stadtleben, die Menschen und die Mentalität. Alles fremd und irgendwie beziehungslos. Wenn sie sich weiterhin dreimal täglich Reis kochte, schmeckte das nach Heimat. Wenn ich das Wort „Europäische Vielfalt" benutzte, sprach sie lieber von „Europäischen Eigenarten".
Mein Leben als Freiwillige in Madrid erschien mir dagegen bequem und kinderleicht. Meinen eigenen Spaniensong hätte ich laut, fröhlich und bunt komponiert, mit einer kraftvollen Gitarrenmelodie in C-Dur. Einfach pure Lebenslust. Auch nach neun Monaten in Madrid blieb ich die Besucherin auf Zeit, die die Realität weiterhin durch ihre Euphoriebrille sehen wollte. Man schien vieles zu verstehen, zu durchschauen und mitzufühlen. Und doch gab es ein Ablaufdatum, an dem man abhaute und wieder in seine eigene Realität zu Hause eintauchte. Anders sah es für viele meiner spanischen Freunde aus. Sie wären gerne für mich nach Deutschland zurückgekehrt, da gäbe es wenigstens Arbeit und Zukunft.
Für meine Arbeitskollegen blieb ich „typisch deutsch", sparte Urlaubstage zusammen, verspätete mich maximal zehn Minuten zur Arbeit und besaß (trotz straßenköterblond) blondes Haar. Gleichzeitig stieß meine Liebe zu den spanischen Bräuchen an ihre Grenzen; wenn in Kneipen ölige Papierservietten nach der Benutzung auf den Boden gepfeffert wurden (Serviettenberge deuten auf eine zu empfehlende Küche hin), faltete ich das Stück Papier nur beschämt zusammen. Wenn es erst um 4 Uhr nachts in den ersten Club gehen sollte, sehnte ich mich nach meinem Bett. Vielfaches Umarmen, Schulterklopfen und Tätscheln wirkten bei mir auch nach neun Monaten noch verhalten.
Mein Europäisches Jahr machte mich beweglicher. Im Denken, Entscheiden und Fühlen. Ich wurde zum Couchsurfingfan, zur Organisatorin von Deutschklassen, zum Teil eines multikulturellen Freundeknäuels. Meine Schablone, meine Sicht auf alle Dinge, wurde verformbar, wie ein Fenster, das größer wird, wenn man es öffnet. Doch ganz konnte ich diese Schablone nicht ablegen. Was ich sah und beobachtete, wurde gefärbt und beurteilt von dem, was ich aus Deutschland kannte, dort erlebt und gelernt hatte. Madrid wurde mein Zuhause, das Wort Heimat aber stürzte mich weiterhin in kleine Sehnsuchtsmomente nach Bremen: im Sommer war es ein kaltes Becks an der Weser, im Herbst der Freimarkt, im Winter der Schnee und im Frühling das Faulenzen im Bürgerpark. Diese Stücke Heimat blieben mein inneres Refugium, mein Schatzkästchen, das ich stets in mir trug, das mich zum weiterreisen motiviert, mit dem ich nie und nirgendwo auf der Welt wirklich alleine sein werde.
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