Kein ICH ohne ein WIR
Solidarität ist des Menschen natürlichstes Verhalten, der Mensch ist kein Einzelgänger. Doch liegt es an jedem Einzelnen von uns, wie weit wir mit unserer Solidarität gehen wollen. Sollten wir solidarisch gegenüber unserer Familie sein? Unserem Land?
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Von den Herausforderungen und Chancen der Solidarität
Solidarität ist dem Menschen alles andere als fremd, ist sie doch tief in seiner Natur verankert. Seit jeher sind wir empathische Wesen, leiden und lachen mit unserer Familie, unseren Freunden und darüber hinaus. Wir fühlen mit unserem ärmlichen Nachbar und teilen mit ihm unser letztes Hemd. Solidarität ist menschliche Normalität. Außerdem ist Solidarität die Grundlage für Wachstum und Problembewältigung. Neue Gebiete können erobert und Feinde können besiegt werden mit der Kraft der Solidarität durch gemeinsames Handeln.
Solidarität ist Überzeugung, und damit auch Teil meiner Identität. Ich bin eine Frau, eine Jugendliche, Veganerin, Deutsche. Zahlreiche Attribute, gewählt oder angeboren, machen mich aus und bedeuten für mich Zugehörigkeit zu gleichgesinnten Fremden. So ist Solidarität längst kein Gegensatz zu Individualität, sondern vielmehr ein wesentlicher Bestandteil ebendieser.
Unsere Vorstellungskraft und Verständnis von Solidarität sind an unseren Herausforderungen der letzten Jahrhunderte gewachsen. War bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts noch vor allem unser Nationalstolz, unsere nationalistische Solidarität, unser ideologischer Leitfaden, haben der erste und zweite Weltkrieg dieser Anschauung zerrüttet. Die neue Herausforderung war die der internationalen Zusammenarbeit, um den Frieden zu wahren.
Und schon stehen wir an der Geburtsstunde der EU. Schnell bewies sich, dass dieser Frieden Völker vereint, indem er eine erweiterte Form der Solidarität schafft. Wir sind seitdem nicht mehr nur stolze Deutsche, Franzosen, oder Griechen. Wir sind alle vereinte Europäer.
Menschen genießen diese Solidarität, diese neu gewonnene Sicherheit und daraus resultierende Freiheit. Und wohnt es doch dem Menschen inne, Solidarität als natürlich hinzunehmen, nimmt er nunmehr seine Freiheiten für selbstverständlich. Fälschlicherweise, denn das individualistische Fundament der liberalen Demokratie des 21. Jahrhunderts wird sich allmählich selbst zum Verhängnis. Wir als Konsumenten, wir als Bürger, haben immer Recht, und dieses Recht bestimmt unsere Politik. In einem funktionierenden System jedoch, ist jeder Eins oftmals dazu verführt, sich zurückzulehnen, dem narzisstischen Individualismus zu verfallen. Undankbar zu nehmen, und halbherzig zu geben.
Nun sehen und sehnen sich manche den Zerfall der EU herbei, zu lange hätten wir uns laut ihnen der Illusion der paradiesischen europäischen Einigung hingegeben. Als nationalistischer Deutscher sage ich, diese Einigung schadet uns Deutschen. Indem wir als starke Nation mit anderen Nationen Seite an Seite zusammenarbeiten, verlieren wir unsere Überlegenheit im Tausch gegen die Stärkung Anderer. Andere Nationen, die wir doch eigentlich nicht brauchen.
Doch so einfach funktioniert die Welt nicht, ganz gegenteilig wird sie immer komplizierter, komplexer und vernetzter. Meine Probleme beschränken sich längst nicht mehr auf familiäre Probleme, und auch längst nicht mehr auf den Wohlstand meiner Nation. Zu Beginn des Jahres 2019 bin ich 18 Jahre alt. Die Prognosen meiner Lebenserwartung übersteigen meine Vorstellungskraft der Zeit, in der sie enden wird. 2090. Ein Jahr, von dem keiner weiß, wie es sein wird. Doch sind sich alle einig, dass es grundanders wird. Bereits jetzt drohen sich uns alarmierende Vorhersagen an:
Geschmolzenes Nordpoleis bis 2040
140 Millionen Klimaflüchtlinge bis 2050
Und dies sind nur zwei Beispiele des Klimaproblems. Weitere Herausforderungen, die wir weder genau datieren, noch vollständig begreifen können, umfassen die Möglichkeit eines alles vernichtenden Atomkriegs, verheerende Cyber-Attacken, und das Besiegen der Armut.
Wenn ich mir diese Aussichten ansehe, wird mir flau im Magen. Wie soll man da den Überblick behalten, wo soll man ansetzen? Zunächst haben alle aufgelisteten Probleme eine Gemeinsamkeit: Sie übersteigen religiöse, kulturelle und nationale Grenzen. Es sind ebendiese Grenzen, die wir überschauen und vor allem überbrücken müssen, um an den drängenden Problemen unserer Zeit arbeiten zu können. Allein als Deutsche, Franzosen, Chinesen, Amerikaner, Peruaner, können wir dies nicht. Es ist an der Zeit, nationale Interessen beiseitezulegen, und uns stattdessen der Interessen anzunehmen, die unsere Zukunft sichern und darüber hinaus die unserer Kinder, Enkelkinder, und unseres Planeten. Als eine vereinte solidarische Menschheit.
Eines müssen wir uns bewusstwerden:
Internationale Solidarität bedeutet nicht nur, Einbuße zu machen, sondern auch Sicherheit und Freiheit. Denn dadurch können wir einander stützen und uns austauschen, voneinander lernen, in fremde Kulturen eintauchen, und aus einem weiten Pool an Bräuchen, Anschauungen und Lebensweisen uns jene aneignen, die wir für richtig halten. Nicht nur die, in die wir als Staatsbürger hineingeboren wurden.
Die EU, trotz aller Verbesserungsfähigkeit, ist ein Pionier in der internationalen Solidarität. Die EU hat das Potenzial und die Verantwortung, ein Beispiel zu setzen für die zwischenstaatliche Zusammenarbeit und gemeinsam erhaltenen Frieden. Doch diese große Aufgabe können wir nicht nur unseren Politikern überlassen. Die von uns so geschätzte Demokratie lebt von uns als aktiven Bürgern. Wir selbst müssen uns stark machen, als Jugend, als Erwachsene, als Staatsbürger. Und vor allem als Europäer.
Solidarität bedeutet für mich Brücken schaffen und dialogische Beziehungen bauen, um erfolgreich aneinander zu wachsen und Herausforderungen zu überwinden. Wir alle sind solidarische Wesen, doch liegt es an uns, diese Solidarität fortwährend zu erweitern. Vom Deutschen zum Europäer, und von da aus zum Weltbürger. Denn es gibt kein Ich, ohne ein Wir.