Karussell der Kulturen.
Von festgefahrenen Polen und aufgeschlossenen Deutschen?!
Heute, am 20.09.2017 bin ich über zwei Wochen hier in Breslau und ich kann euch sagen: Noch wurde ich nicht bestohlen, ich habe noch keine Autos geknackt, noch keine Saufparaden mit Wodka absolviert und - Gott sei Dank - bin ich noch auf keinen ausländerfeindlichen Menschen getroffen. Das Gegenteil ist der Fall. Polen sind sehr gastfreundlich. Ich werde immer wieder gefragt, wie es mir geht und ob ich noch etwas brauche, ich werde vielen Leuten vorgestellt, ich habe unheimlich viele Tipps für Breslau bekommen und wurde schon auf Konzerte und in den Gottesdienst eingeladen. Dieses Klischee entspricht also ausnahmsweise mal der Wahrheit ;) Aber jetzt zu dem, was bei mir gerade wirklich abgeht!
Langsam fängt meine Welt in Breslau an, sich immer schneller zu drehen. Meine zweite Arbeitswoche verging wie im Flug, ich kann mir schon fast alle Namen merken, langsam werde ich auch mit den Kollegen warm, sowie den Kindern und den Senioren. Im Kindergarten arbeiten sehr nette Frauen in der Küche, die mich jedes Mal anstrahlen, wenn ich den Kindergarten betrete. Die Kleinen rufen erfreut: "Pani, pani!" (Die Frau ist da!), wenn sie mich sehen und kommen angelaufen. Sie umarmen mich, ich bekomme viele Bilder geschenkt und die Jungs fragen mich immer wieder voller Erwartung, ob ich denn heute mit ihnen Fußball spielen könne. Die Sprachbarriere ist zwar immer noch schwierig, aber ich verstehe jeden Tag mehr. Inzwischen haben die Kinde auch verstanden, dass ich Zeichensprache verstehe und so kam es dazu, dass ich mit den Mädchen eines Tages Verstecken spielte, ohne dabei eine Erzieherin als Übersetzerin hinzugezogen zu haben.
Mittlerweile hat die Chefin des Kindergartens auch eingesehen, dass wir eine gesonderte Zeit brauchen, um den Kindern Deutsch beizubringen, und ich unterrichte jetzt zwei Mal die Woche im Kindergarten für fünfzehn Minuten in zwei unterschiedlichen Gruppen. Heute habe ich den Kindern das Zählen auf Deutsch beigebracht, indem wir Kastenhüpfen gespielt und dabei laut mitgezählt haben. Das hat echt Spaß gemacht! Wie viel Zeit ich hatte, um das vorzubereiten? Nun, die Nachricht mit den Terminen habe ich gestern Abend bekommen, die Chefin hat es mir heute nochmal gesagt. Gar nicht kurzfristig, neeein. Naja, die polnische Mentalität eben. Darauf komme ich auf jeden Fall nochmal zu sprechen! :D
An meinem letzten Tag bei den Senioren haben die Betreuer die Menschen gefragt, ob sie sich an meinen Namen erinnern. Keiner wusste es. Niemand. Es waren mehrere da, auch welche, von denen ich glaubte, sie seien fitter als die anderen. Von denen hätte ich gedacht, sie wüssten meinen Namen. Fehlanzeige! Das war erstmal ein Schock für mich. Es ist echt schwer einzuschätzen, was die Senioren noch können und was nicht. Das ist momentan für mich das Schwerste und ich versuche, es durch Beobachten herauszufinden.
Trotz meiner Bemühungen habe ich mich schon mehrmals geirrt. Eine Frau namens Zosia beispielsweise hat auf mich immer extrem passiv gewirkt, ergo; sehr dement. Die Betreuer haben ihr auch immer sehr einfache Beschäftigungen in Form von Spielen gegeben, was meinen Eindruck bestätigte. Eines Tages setzte ich mich zu ihr und fragte sie nach ihren Kindern, weil das einer der wenigen Fragen ist, die ich auf Polnisch beherrsche. Sie antwortete mir und es entwickelte sich ein Gespräch, in dem sie Interesse an der Deutschen Sprache zeigte und meinte, wir könnten uns austauschen und voneinander lernen. Sie erwähnte noch irgendwas mit Russisch. Ich war erst etwas verwirrt und glaubte nicht daran, dass das gehen könnte. Trotzdem ich entschloss mich, ihr eine Chance zu geben und schnappte mir ein Magazin. Ich zeigte auf Gegenstände und fragte sie, was das auf Polnisch heißt. Zögerlich sagte sie mir die polnische Bezeichnung und überlegte...bis ihre Augen leuchteten und sie mir begeistert das Wort auf Russisch sagte. Es war wie als würde sie aus dem Demenzschlaf erwachen. Ich zeigte immer wieder auf Gegenstände und presenter denn je konnte sie mir alle Wörter auf beiden Sprachen sagen und hörte sich die deutsche Übersetzung an. Ich war total überrascht! Später erzählte mir jemand, dass sie früher einmal Lehrerin für Polnisch und Russisch gewesen war, also eine sehr intelligente Frau. Das machte mich einerseits traurig, da es mir zeigte, was Demenz mit Menschen anstellen kann. Andererseits weckte diese Information die Neugierde in mir, mehr über ihr Leben zu erfahren und mehr darüber zu lernen, wie man Menschen mit Demenz fördert und noch einiges aus ihnen herauskitzeln kann.
Eine Premiere in dieser Woche war der Deutsch-Unterricht für Jugendliche. Unter Jugendlichen verstehe ich Menschen zwischen zwölf und achtzehn Jahren. Warum ich das so betone? Lest selbst...
Ich war sehr aufgeregt, als ich am Dienstag den Unterricht zu Ende vorbereitete. Um 16:00 sollte der Unterricht beginnen. Doch um 15:00 kam Maryna und meinte, sie hätte sich vertan, ich solle um 17:00 unterrichten. Vielleicht für euch nur eine kleine Änderung, aber für mich nicht. Diese zusätzliche Stunde führte nämlich dazu, dass ich meinen Plan noch einmal umwarf und überarbeitete, weil ich so nervös war. Um 17:00 erwartete mich dann die nächste Überraschung. Maryna und ich gingen gemeinsam zu den Eltern mit ihren... Kindern. Ja, ihr habt richtig gelesen, das waren Kinder. Grundschulkinder. Warum das so schlimm ist? Nun, ich kann kein Polnisch, Leute. Und Jugendliche können oft Englisch, Grundschulkinder aber nicht. Außerdem hatte ich Aufgaben im Schwierigkeitsgrad für Jugendliche vorbereitet. Mein Stresspegel, der sowieso schon hoch war, stieg noch weiter.
Er erreichte seinen Höhepunkt als mir Maryna sagte, das eine Mädchen könne nicht lesen und schreiben. Na superklasse. Wie soll ich ihr dann Deutsch beibringen, ohne Polnisch zu können? Völlig verzweifelt stand ich vor acht erwartungsvollen Kinderaugen. Was sollte ich bloß machen? Ich trat mir innerlich selbst in den Arsch: "Improvisiere, Leonie. Das wolltest Du doch hier in Polen lernen. Spontan sein. Entspannt sein. Eben ein bisschen mehr wie die Polen es sind, als wie eine typische Deutsche." Ich atmete tief durch und gab mein erstes Blatt aus. Dass die eine es nicht lesen konnte, ignorierte ich galant. Ich fing an, mich vorzustellen auf Deutsch und auf Polnisch. Ich zeigte den Kindern ein Video über das Alphabet auf Youtube. Anschließend ließ ich sie vorlesen und am Ende bekamen sie ein seeehr simples Arbeitsblatt. Geschafft.
Vielleicht fragt ihr euch jetzt, warum ich denn so angespannt war und warum mich das so gestresst hat. Das hat mich jedenfalls Maryna am nächsten Tag mit gaaanz großen Augen besorgt gefragt: "Mensch, was war denn mit dir los gestern?" Nun, ich habe darüber nachgedacht und bin zu der Erkenntnis gekommen, dass es an meinem Anspruch an mich selbst liegt. Als Perfektionistin wünsche ich mir, dass ich meine Aufgaben sehr gut erledige und dazu gehört, gut vorbereitet zu sein. In dem Moment habe ich mich nicht gut vorbereitet gefühlt. Außerdem ist mir klar geworden, wie "deutsch" ich eigentlich bin. Witzig, dass ich für diese Einsicht erstmal nach Polen fahren musste. Ich mag keine kurzfristigen Veränderungen und bin ziemlich unflexibel. Ich bin es gewöhnt, dass Dinge gut geplant sind und ich mich auf alles einstellen kann. Hier in Polen werde ich eines Besseren belehrt. Hier kann ich mich nicht auf alles verlassen. Hier kann es sein, dass ich nur ein paar Stunden vor einer Sache erfahre, dass sie anders wird. Der Beginn meines Deutschunterrichts, der verschobene Vorstellungsgottesdienst, der kurzfristig angesagte Deutschunterricht im Kindergarten und die zwei Stunden vorher kurzfristig verschobene Mitarbeiterbesprechung im Kindergarten. Hier in Polen muss man mit allem rechnen, immer mitdenken und flexibel sein. Die beste Schule zum spontan werden für mich heißt also: "Parafia Ewangelicko Augsburgska we Wroclawiu!" (meine Stelle in Polen!)
Letztes Wochenende habe ich mich noch echt einsam gefühlt, was sich mittlerweile nicht mehr so sagen lässt. Denn mein Mitbewohner Marcel kam vor einigen Tagen zurück aus seinen Ferien. Er lud Mattis und mich Freitag Abend in eine echt coole Bar ein. Sie war modern eingerichtet und hatte zwei Etagen. Wir setzten uns oben auf Barhockern an ein großes Fenster, durch das man die Gasse vor der Bar beobachten konnte. Marcel verkündete feierlich, dass er uns beide einladen wolle. Total lieb! Ich konnte mich nicht entscheiden, welches Gericht ich nehmen sollte. (Ja, dass ist auch so eine Macke von mir. Ich hasse Entscheidungen. Stell mich vor ein Chipsregal und gib mir die Aufgabe von bestimmt zwanzig Chipssorten eine aussuchen. Ich werde dich dafür has...natürlich lieben!) Marcel jedenfalls lehrte mich an diesem Abend das Schicksalsprinzip. Er hob seinen Zeigefinger und rief laut; "Schicksal!", während er seinen Finger auf die Karte schnellen ließ. So kam es dazu, dass ich Wildschwein probierte und eine neue Methode erlernte, mich selbst auszutricksen.
Wir lernten an diesem Abend noch einiges von Marcel. Anstatt mit "Prost!" anzustoßen, sagte er überzeugt und höchst seriös: "Zum Beispiel!" und hob sein Glas. Mattis und ich verstanden nur Bahnhof. Also erzählte er uns die Geschichte von einem ungarischen Stundenten, den er in Deutschland kennengelernt hatte. Dieser war total faul, wenn es um das Deutschlernen ging. So faul, dass er sich noch nicht einmal das Wort "Prost" merken konnte, obwohl er dazu oft den Anlass gehabt hätte. Stattdessen hob der Ungare bei jedem Barbesuch sein Glas mit einem überzeugten: "Zum Beispiel!"
Je mehr Biere wir probierten, desto ernster wurden die Themen. Marcel erzählte uns von der dunklen Seite Polens, die aus leeren Höflichkeitsfloskeln, radikalen Katholiken und Nationalisten besteht. Er beschrieb sein Volk mit den Worten "stolz" und "narzistisch" und behauptete, dass sich die Polen immer noch in der "Opferrolle" sehen, in der sie sich während des zweiten Weltkriegs befanden. Marcel meinte, dass die Polen von Europa nur nehmen wollten, da sie keine Flüchtlinge aufnehmen. Des Weiteren behauptete er, dass die Polen es nicht wirklich kennen, frei zu sein und deshalb wieder die Nationalisten gewählt hätten, ähnlich wie in Russland. Ich war geschockt von dem schlechten Bild, welches er von seinem eigenen Land hat. Ich fragte ihn, was er mit den Höflichkeitsfloskeln meinte und er antwortete, dass Polen es nicht immer ernst meinen, wenn sie einen einladen. Außerdem würden Polen gleich misstrauisch, wenn jemand offenes wie er gerne Leute kennenlernt und einlädt, ohne sie gut zu kennen. Sie würden dann gleich denken, dass er dabei Hintergedanken hat. In Deutschland, wo er einige Zeit studiert hat, habe er zum ersten Mal Menschen getroffen, die so seien wie er; offen und interessiert daran, neue Leute zu treffen. Später gab er zu, dass er vielleicht etwas verallgemeinert hat und es auch in Polen Menschen gibt, die aufgeschlossen sind. Ich nehme aus der Unterhaltung mit, dass die Polen sehr von ihrer Geschichte geprägt wurden und misstrauisch sind, ich mir ihr Vertrauen also verdienen muss. Das sind Dinge, die meiner Meinung nach auch in Deutschland gelten, also werde ich das hoffentlich auf die Reihe bekommen. Das Essen und trinken für uns drei kostete ihn umgerechet nur 35€. Dafür liebe ich Polen; Essen und Trinken für wenig Geld! *-*
Marcel zeigte uns noch die Partymeile und wir erfuhren, dass die Clubs hier jeden Tag geöffnet sind, aufgrund der zahlreichen Studenten. Er wollte mit uns noch in den Zoo am Samstag, woraus leider nichts wurde, da es den ganzen Tag regnete. Aber schon allein der Abend in der Bar machte mich unglaublich glücklich. Mein zweiter Mitbewohner ist ein politisch interessierter und sehr aufgeschlossener Mensch, mit dem man Spaß haben und viel unternehmen kann. Genauso einen Menschen braucht man, wenn man irgendwo neu ist! :D
Am Sonntag hatten Mattis und ich dann unseren Vorstellungsgottesdienst in der Parafia Ewangelicko Augsburgska we Wroclawiu! Der ehemalige Bischof hielt die Predigt in der wunderschönen weißen Kirche. Die landeskirchlichen Lieder wurden von der Orgel und einer Geige begleitet. Mattis und ich sangen die Lieder mit, auch wenn wir kaum etwas davon verstanden. Zum Ende hin wurden wir dann nach vorne gebeten und ich sagte bestimmt zum fünften mal in diesen zwei Wochen diese Sätze: "Jestem Leonie. Mam dwadzieścia lat i jestem z Hanower. Ja lubie koszykówka i fotografia." (Ich bin Leonie. Ich bin zwanzig Jahre alt und komme aus Hannover. Ich mag Basketball und Fotografieren.) Nach dem Gottesdienst kam eine freundliche Frau zu uns. Ihr Name war Feruga und sie konnte sehr gut Deutsch. Sie lud uns zu sich nach Hause zum Tee ein mit ihren zwei Söhnen. Außerdem bot sie Maryna an, einmal die Woche zu helfen, wo sie gebraucht wird.
Maryna war überglücklich. Sie meinte, dass sei das allererste Mal, dass Gemeindemitglieder auf die Freiwilligen zukommen, von sich aus. Wir sind die dritte Generation Freiwilliger hier und am Anfang war die Gemeinde total skeptisch; Freiwillige? Was sollen die denn hier? Einen Freiwilligendienst zu machen ist in Polen sehr unpopulär, erklärte uns Maryna. Hier leiten die Eltern ihre Kinder an, sofort zu studieren. Ein Freiwilligendienst wird eher als Zeitverschwendung verstanden. Doch jetzt scheint sich ihr Bild von Freiwilligen glücklicherweise geändert zu haben. Genauso wie im Kindergarten. Maryna meint, es sei das erste Mal, dass die Freiwilligen bei der Mitarbeiterbesprechung dabei sein durften. Jahrelang hat sie darum gebettelt und jetzt war die Direktorin endlich offen dafür. Die Mitarbeiter waren von unseren Ideen ganz begeistert, besonders die zur Adventszeit geplanten Aktionen. Stellt euch mal vor, in Polen kennt man kein Wichteln, keinen Adventskalender und keinen Weihnachtsbaum. Das wollen wir jetzt ändern!
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