Jenseits der Stille
Diesseitsderstille hat seinen Dienst beendet ist endlich jenseits der Stille.
Mein Drängen und Streben nach Freiheit hat gesiegt. Ich habe tatsächlich wenige Tage nach der Veröffentlichung meines letzten Beitrags „ernst gemacht“ und meine Aufnahmeorganisation, die mich eigentlich eher „aus“genommen als „auf“genommen hat, mit meinen Absichten konfrontiert.
Ich weiß gar nicht, warum ich von der Gelassenheit meines Mentors und der Chefin so überrascht war, eigentlich hätte ich mir denken können, dass die mir keine Träne nachweinen, sondern eher gefasst reagieren würden.
Da von meinem Projekt sowieso nur noch wenige Wochen übrig waren und ich dann doch noch ein paar Tage Urlaub hatte, einigten wir uns auf den Kompromiss, dass ich die Hälfte der verbleibenden Zeit noch ein bisschen die Zähne zusammen beißen und die zweite Hälfte Urlaub nehmen soll. Mein Projekt läuft also doch ganz regulär am 28.2.2011 aus wobei ich schon seit ein paar Tagen im Urlaub bin.
Das mit dem „noch ein bisschen die Zähne zusammenbeißen“ war allerdings nicht besonders einfach.
Ab dem Moment, wo ich entschieden hatte, nicht bis zum Ende zu bleiben, setzte die emotionale Distanzierung mit meiner Arbeit und meiner Umgebung ein.
Ich wusste, dass die Tage gezählt waren und je weniger es wurden, umso drängender wurde die Sehnsucht nach dem, was nach meinem EVS kommen würde.
Jeder einzelne der letzten Tage gehörte für mich ab meiner Entscheidung vorzeitig nach Hause zu fahren, der Vergangenheit an: ich begann nichts Neues mehr, ich ließ die Zeit einfach auslaufen.
Es gab für mich kein „Heute“ mehr, sondern vorläufig an jedem der restlichen Tage nur noch „Gestern“.
Als ich dann auch noch erfuhr, im Rahmen eines Praktikums den Frühling und den Sommer in Paris zu verbringen, war ich emotional endgültig abgereist. Ich wartete nur noch, dass die „Rest-Vergangenheit“ zu Ende ging und ich am Tag der Abreise endlich in der Gegenwart ankommen würde.
Die letzten Tage verstrichen ereignislos und rascher als ich gedacht hatte. Wie die letzten Töne eines ausklingenden Liedes verloren sie sich in der rauschenden Aufbruchstimmung des Vorabends meiner (verfrühten) Abreise. Gedanklich war ich schon in Paris und spürte nach langer Zeit wieder eine prickelnde Vorfreude in meinem Bauch, jetzt sollte mir nichts mehr im Wege stehen.
Als ich dann am Tag der Abreise, morgens mit dem Bus Richtung Bratislava fuhr um von dort den Eurocity zu nehmen, habe ich mich noch oft umgedreht und sah die Stadt, in der ich das letzte halbe Jahr gelebt hatte, durch die Heckscheibe in der Ferne immer kleiner und kleiner werden bis es endgültig in der Landschaft verschwunden war. Ich fühlte mich befreit, die Zukunft konnte kommen.
Auf der Zugfahrt habe ich dann doch noch viel nachgedacht, habe mich erinnert
an all die Kämpfe, die ich ausgefochten hatte,
an Natalia, die mir bis zum letzten Tag versucht hatte, das Leben zur Hölle zu machen;
ich erinnerte mich an all die Lügen und Unverschämtheiten seitens meiner Aufnahmeorganisation,
an den Slowakischkurs und den Gebärdensprachkurs, die es nie gegeben hatte,
an die schreckliche Unterbringung,
an meinen Einsatz für einen würdigen Essensgeldbetrag,
an die Rückschläge, Widerstände und die Steine, die man mir in den Weg gelegt hatte,
an meine Bemühungen, trotz allem das Beste aus meinem EVS zu machen,
an die tödliche Untätigkeit und Langeweile,
an die Freundschaften, die ich geschlossen hatte und die Anfeindungen, denen ich begegnete,
an den pseudo-christlichen Fundamentalismus,
an meine Kenntnisse der slowakischen Sprache und Gebärdensprache, die ich praktisch in Eigenregie gesammelt hatte,
an die vielen Facetten in denen ich die Slowakei kennen gelernt hatte,
an die Begegnungen, die Bekanntschaften und die Reisen, die ich gemacht hatte,
an die Abenteuer, die ich bestanden hatte,
an den nächtlichen Telefonterror,
an die Gleichgültigkeit der Polizei,
an meine Einsamkeit, meine Enttäuschung, meine Verzweiflung,
an meinen Blog, und an all die lieben Kommentare und persönlichen Nachrichten voll Anerkennung und Anteilnahme, die mich immer wieder aufgerichtet und ermutigt haben, weiter zu machen, aus denen ich Kraft und Selbstbewusstsein geschöpft habe - und als ich nach 12 Stunden Fahrt mit beiden Beinen auf dem Bahnsteig des Berliner Hauptbahnhofs stand, dachte ich nur „Jetzt kann ich alles“.
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