Italienische Verhältnisse: Cafés, Sonne, Vögel, Christen
„Ein weiterer strahlender Sommertag auf der Farm geht zu Ende. Die Sonne wärmt die Mauern und Wiesen bis zehn Uhr am hellen, langen Abend. Und was mache ich? Ich sitze vor dem Computer und schreibe. Ein Wochenende neigt sich dem Ende zu, das mein Zeitgefühl schon lange aus meinem Leben gekickt hat…“
Ein weiterer strahlender Sommertag auf der Farm geht zu Ende. Die Sonne wärmt die Mauern und Wiesen bis zehn Uhr am hellen, langen Abend. Und was mache ich? Ich sitze vor dem Computer und schreibe. Ein Wochenende neigt sich dem Ende zu, das fast wie eine ganze Woche wirkte. Ein Wochenende, das mein Zeitgefühl schon lange aus meinem Leben gekickt hat und kürzliche Besuche wie North Berwick wie bereits lange vergangen erscheinen lässt. Wäre es nur immer so.
Ich bin gut. Die Zeit tut sich sehr schwer im Moment. Wer weiß, wenn ich so weiter mache, wird sie immer langsamer, bleibt vielleicht irgendwann stehen und erreicht erst gar nicht den 30. August.
Italien I: Cafés für Profis
Was habe ich gemacht? Nicht viel. Nicht einmal weit gefahren bin ich. Es begann als ganz normaler Freitag auf Gibside. Was also machte den Zahn der Zeit so stumpf? Nun, zuerst wahrscheinlich die etwas verwirrte Situation in meiner normalen Schlafstätte in Newcastle, wo sich mein Tutor gerade geschieden hat, seine Frau auszog und die Wohnung natürlich in etwas Chaos zurück ließ. Überhaupt eine leicht merkwürdige Atmosphäre, gerade für mich.
Was soll’s, ich hab mich aus dem Staub gemacht, in eins der nun ganz plötzlich so zahlreichen Cafés der Stadt. Man glaubt es kaum; wie bei mir daheim die minderjährigen Prolls, so schießen hier mit den ersten Sonnenstrahlen die Cafés aus den Löchern. Ums Monument herum kann man nicht die Strasse überqueren, ohne über einen Kellner zu stolpern.
Was macht mich mein Newcastle stolz: ein großer Sprung an Lebensqualität heran an die gastronomische Infrastruktur bisher beneideter Ziele wie Edinburgh. Und auch wenn es so unverschämt teuer ist, kann man nicht anders, als es zu genießen: draußen auf der Strasse zu sitzen und sich vom Schwitzen zu erholen, die Sonne auf der Haut brennen zu spüren und das Leben um sich zu sehen und hören. Sogar schöne Engländerinnen sieht man.
Gerade bei meiner regulären Wohnstätte im Viertel Sandyford gibt es zwei wunderschöne Etablissements gleich um die Ecke, das „Saporis“ und das „Ti amo“. Weg vom Zentrum, ruhig und gemütlich. Ersteres sehr billig und schicker eingerichtet, das zweite für leicht ältere Kundschaft, halb Restaurant und mit der zweifelsohne hübschesten Bedienung der Stadt. Der Kaffee ist auch gut. Plätze in denen man Stunden zubringen will und auch kann. Ach, warum entdecke ich sie erst jetzt?
Samstag: Die Farne Islands
Ein Vorteil dieser ganzen Trennungsgeschichte: ich hatte ein richtiges Bett zur Verfügung. Und fast noch besser: zum ersten Mal – seit ich weiß nicht mehr wie lange – habe ich mir keinen Wecker gestellt. Eingeplant für diesen Tag war ein Besuch auf den Farn Islands, einer Inselgruppe nördlich von Newcastle, zu der auch das berühmte Lindisfarne gehört, die Heilige Insel. Dorthin war ein National-Trust-Trip organisiert, der aber zu meiner Überraschung erst nachmittags losging. Den Vormittag lang half ich dann beim Ausräumen und Umziehen, gefolgt vom Aufräumen und Wiedereinrichten der Wohnung.
Italien II: Küste für Kenner
Auch wenn das eigentliche Treffen erst um fünf geplant war, sind wir – also mein Tutor, sein Sohn und ich – bereits gegen Mittag Richtung Seahouses gefahren, wo ja vor kurzem schon meine Eltern auf ihrem Weg nach Norden durchgekommen sind. Das ist ein kleiner Ort direkt an der Küste mit einem grandiosen Sandstrand; voller Touristen und Eiscafés. Und einem Bäcker. Kinder, ein Bäcker war da! Mit Baguettes so dick wie ein Heizungsrohr und Croissants weicher als ein Schwamm.
Was für eine Erleichterung. Hinaus aus der schwülen Hitze der Stadt an die frische Küste. Denn ein Wetter haben wir in letzter Zeit, da kann man nicht meckern. Zwar sind es nie mehr als 25 Grad, aber das Meeresklima hier lässt einen schon ab 20 Grad Celsius gehörig schwitzen. Die wolkenlose, blaue Küste mit ihren Seglern und Yachten, die weit draußen langsam ihre weißen Bahnen ziehen, ist kaum von der Adria zu unterscheiden. Ich hab es genossen, durch die Strassen des Ortes zu schlendern, in vollkommener Urlaubsstimmung. So haben wir uns erstmal einfach nur mit einem Eis auf die Kaimauer des kleinen Hafens gesetzt. Später hat sich Paul zu uns gesellt, nur ohne Eis.
Einsame Inseln
Kurz vor fünf haben wir uns zum entsprechenden Liegeplatz aufgemacht, wo schon an die 50 Leute warteten. Alles National Trust Mitarbeiter, Freiwillige, privat Interessierte. Bis unsere zwei Boote von ihrer letzten Tour wiederkamen hat es etwas gedauert. Aber gegen halb sechs waren wir raus aus dem Hafen und in Richtung der äußeren Insel Staple Island.
Ich habe noch gar nicht erzählt, wozu wir dort hin wollten. In einem Wort: Vögel. Die Inseln sind so wichtige wie bekannte Brutkolonien für Seevögel und ebenfalls im Besitz des Trust. Den zuständigen Warden hatte ich damals im November beim jährlichen Generaltreffen in Newcastle auf einem Diskussionsforum gesehen. Wohnt so ganz allein mit ein paar anderen Mitarbeitern auf einem Felsen in der Nordsee. Glaub, das wäre sogar mir zu einsam.
Vogelvielfalt
Zuerst sind wir wie gesagt zu den äußeren Farn Inseln gefahren, die wirklich nicht viel mehr als große, weiße Felsen sind, auch wenn wir das Glück von ruhiger See und Sonnenschein hatten. Alle haben ihre Hüte und Mützen aufgesetzt, um vor Schnäbeln und, ähem, Vogelabsonderungen sicher zu sein und raus ging’s aus den Booten. Ein kleiner Pfad führte direkt an den Nestern vorbei, was die Schnabelattacken erklärt.
Auf den Farn Inseln kriegt man, was man verspricht. Vögel. Viele Vögel. Hunderte, tausende Vögel. Von normalen Seemöwen über Kormoranen hin zu anderen, von denen ich in meinem biologischen Unwissen natürlich die deutschen Namen nicht kenne. Da waren die bekannten Puffins mit ihren lustigen großen Papageienschnäbeln, die kleine Höhlen statt Nestern haben. Besonders beeindruckend fand ich die Greater Blackbacks, von mir Laien im Aussehen als gigantische Möwen beschrieben.
Ich hab ja wirklich wenig Ahnung von Tieren (oder Pflanzen), aber selbst für meine mickrigen Schulkenntnisse in Evolution und Ethologie war einiges zu finden. Die Warnrufe der einzelnen Spezies, wie eine Art senkrecht ins Wasser stürzt und nach Fischen jagt, und vor allem, wie ich ein Exemplar mit einem Zweig beim Nestbau beobachten konnte. Ganz besonders beeindruckend waren auch die Seerobben, denen es dort auf den Inseln auch gut geht. Große Tiere, die grau an den Stränden in der Sonne liegen.
Der Star aber war etwas anderes: um unsere Boote herum schwamm ein echter Delphin. Und ich musste keinen Penny bezahlen.
Die Vögel
Nach einer halben Stunde ging es dann aber weiter, zu einer der inneren Inseln, wo auch die National-Trust-Hauptstation war. Untergebracht im einzigen alten Wohnhaus auf diesen Stein im Meer. Aber sogar dort gibt es eine alte Kirche und einen alten, weißen Leuchtturm. Wobei die Kirche vielleicht gar nicht so überraschend ist, da die Farn Inseln ja das Hauptquartier des Heiligen Cuthbert war und von ihnen aus die Christianisierung Großbritanniens begann.
Dort jedenfalls gab es noch mehr Vögel. Diesmal Turns; eine andere, kleinere Sorte, die etwas weiter im Land auf Wiesen nistete. Klein, mit langen, roten, spitzen Schnäbeln, mit denen sie auf jeden Besucher losgingen. Obwohl die kleinen Hiebe auf den Kopf nicht wehtaten, war es ein komisches Gefühl, wenn wieder ein Exemplar über meinen Kopf aufstieg, um in ein paar Sekunden auf mich nieder zu stürzen.
Mehr musste ich auf meine Sprache aufpassen, wenn ich einen der ornithologisch gebildeten National-Trust-Mitglieder über die Vögel ausfragte. Nicht, weil mein Englisch nicht ausreichte, eher, weil es durch das Leben mit den Landmenschen hier schon recht viele... mhm… Alltagsausdrücke enthält. Natürlich traf man sogar auf diesem verlassenen Stück Stein in der Nordsee Deutsche. Diesmal ein Team Tierfilmer vom NDR, die gerade eine sechsmonatige Dreharbeit rund um die Nordsee beendeten. Das wäre doch was: fürs Reisen bezahlt werden!
Warme Küche
Mit der Sonne schon tief über dem Wasser und Bambourgh Castle im Dunst ging es zurück nach Seahouses, wo wir einen besseren Imbiss für den Verzehr von Fish&Chips reserviert hatten. Was für ein Chaos. Jeder ohnehin schon schwitzend, wurden fünfzig Mann an Tische gepfercht und in einem Geistesblitz statt mit Kaltgetränken mit Tee versorgt. Vergessen war der Hunger und ein gemütlicher Abend, jeder hat seine Portion so schnell wie möglich runter geschlungen und ist verschwunden, raus aus dem Schwitzkasten. Sogar Paul hat es nicht länger als zwanzig Minuten ausgehalten. Danach ist dann jeder erschöpft nach Hause verschwunden. Ich mit Paul mit, weil ja, wie gesagt, in Newcastle kein Platz für mich ist und vielleicht auf absehbare Zeit keiner sein wird.
Italien III: Stadt zum Staunen
Noch schlimmer war, dass ich mal wieder nicht früh ins Bett gekommen bin, denn am folgenden Sonntag hieß es früh aufstehen. Um acht hab ich mir den Bus nach Sunderland geschnappt und bin von dort per Zug nach Newcastle gefahren. Wie habe ich es genossen, mit der Bahn in die Stadt zu gleiten. Morgens, wenn es bereits heiß wird und Newcastle auf den Hügeln beidseits des breit fließenden Flusses noch im weißen, morgendlichen Sommerdunst liegt, sieht es mit den grünen, pinienförmigen Bäumen aus wie in Italien.
And you will know them by the trail of suits
Was wollte ich dort sehen? Hanni. Die war dieses Wochenende auf der regionalen Konferenz der Zeugen Jehovas. Und eh ich einen Sonntag zu Hause bin fahr ich lieber weg, fast egal wohin. Nein keine Sorge, ich trete keiner Religion bei und schon gar nicht dieser Truppe. Aber interessant war es schon. Und schließlich bin ich hier, um Erfahrungen zu sammeln. Hanni hatte mich nur mit mittelmäßiger Ortsbeschreibung versehen, aber eigentlich musste man nur den ganzen Leuten in Anzügen und Kostümen folgen, die alle auf die Metro Radio Arena, Newcastles große Konzerthalle, zuströmten.
Ich hatte zwei Vorteile: a) klimagerechte Sachen an und b) einen Eiskaffee in der Hand. Damit bin ich also als eine Art Bildstörung in die Halle gegangen, um unter sechstausend Leuten Hanni zu finden. Mein Misserfolg wurde dadurch gemindert, dass sie mich erspähte und mich hastig in eine Stuhlreihe lotste, wo ich mal wieder vielen Leuten nett zulächelte.
Dann: Vier Stunden lang sitzen, zwischen 6000 Leuten, die das baldige Ende der Welt erwarten. Eins muss man ihnen lassen: sie nehmen ihre Sache ernst. Statt irgendwelchen bunten Aktionen trat ein Redner – übrigens immer normale Gläubige und keine professionellen Prediger – nach dem anderen ans Pult und wies seinen Schafen den Weg zum Glück. Stundenlange Reden und alle saßen sie da mit ihren Notizblöcken und schrieben eifrig mit. Natürlich nicht vollkommen reizlos; trotzdem fragte ich mich, wie Hanni das den dritten Tag in Folge aushielt.
Apocalypse soon?
Eine große Bühne gab es dort, über der eine Videoleinwand hing und dem ganzen eine merkwürdige Ähnlichkeit mit diesen amerikanischen Fernsehpredigern verlieh. Sie hatten auch richtige Amerikaner da. Ein Pärchen, was in Bolivien erfolgreich missioniert hatte (wenn ich das richtig verstanden habe, zuerst mit Kindern gegen den Willen der Eltern) und eine Theatertruppe, deren Bibelstück wie 1:1 aus einem religiösen Hollywoodfilm der 1950er abgekupfert wirkte.
Wieder einmal Leute, die wissen was „die Bibel wirklich sagt“. Die wie selbstverständlich und ohne weitere Erklärung auf diffuse „Schwierigkeiten des heutigen Lebens“ ansprechen. Das klassische Lamentieren über den Verfall der Familie und wie schwierig es ist, im „bösen System rechtschaffen“ zu bleiben. Wie andere Formeln wurde auch diese oft genug wiederholt, sodass sogar ich sie mir bis jetzt gemerkt habe.
Etwas widersprüchlich ist es dann aber doch, die Verdorbenheit der modernen Welt zu geißeln, zu der ja nach meinem Verständnis auch die Medien gehören, um sie dann aber mit dem Hinweis „Man muss ja nur in die Nachrichten sehen“ zu begründen. Wenn man der Zeitung Wort für Wort glaubt, muss man ja fatalistisch werden. Zum Glück ist die Lösung nah: alles steht in der Bibel, schwarz auf weiß und unverrückbar. Kein Wunder, dass man so mit sämtlichen Neuerungen und Neuigkeiten Probleme hat.
Auf mich hat diese Versammlung wie ein Fallbeispiel des ängstlichen Suburbias gewirkt: überwiegend weiß, uniforme Erscheinung, starkes Gemeinschaftsgefühl. Sauber und ordentlich.
Nun ja, ich bin ja Verrückte um mich herum gewohnt. Trotz allem sind das alles sehr nette Leute, zuvorkommend, höflich. Ich hab ohne Probleme eine Mitfahrgelegenheit nach Hause mit einer von Hannis befreundeten Familien gekriegt. Etwas nervig: nachdem ich gerade gesagt und auch lang erklärt hatte, dass und warum ich mich nicht gerne über Religionen unterhalte, fängt das Familienoberhaupt an, über Religion zu reden. Und warum es keine Evolution gibt. Ansonsten wurde meine ehrliche Meinung zu den Inhalten dieser Veranstaltung aber akzeptiert.
Käsekritik
Ist natürlich klar, dass ich gleich noch mehr Zeit mit solchen Leuten verbringen will. Deshalb fahre ich jetzt mal wieder mit Hanni weg. Diesmal nach London, wenn auch nur übers Wochenende. Das wird ein Spaß, weil man keine bezahlbaren Zugtickets bekommt, nehmen wir den Übernachtbus, der uns sechs Stunden lang durch Land karrt und dann um sechs Uhr morgens in der großen Stadt ausspuckt. Wenigstens hab ich uns erfolgreich eine Unterkunft besorgt.
Weitere Neuigkeiten: Wie ich gelesen habe, ist jetzt auch Melis wieder daheim in der Türkei und Manuela sollte das Land ebenfalls verlassen haben.
Das letzte Französischexamen ist vollbracht, leichte Kost zu dummen Zeiten. Vierzehn Uhr mussten wir zum Lesetest antreten, was mich mal wieder einen ganzen Arbeitsnachmittag gekostet hat. Auch die normalen Englischprüfungen sind in der letzten Phase. Die Schriftstücke hab ich fast alle zusammen und letztens bin ich überraschend ins mündliche Examen gestolpert, was aber trotzdem kein Problem war. Demnächst müssen dann auch die Level-3-Prüfungen anfangen, für die ich mich eingeschrieben hab. Mehr vom Gleichen.
Last but not least: Nach langer Zeit mal wieder etwas zu Käse. Also, solltet Ihr irgendwo irgendwann einmal ein Schild „Raclette“ sehen, macht einen weiten Bogen drum. Ich hab immer noch 150g im Kühlschrank, die wohl ihren direkten Weg in den Papierkorb finden werden.
So, ich geh jetzt packen und dann hoffentlich früh schlafen. Das Wochenende wird mir ja nicht viel Gelegenheit dazu bieten.