Im Vorübergehen II
Von dem angeblich besten Kaffee Europas, Straßenmusikanten und vielem mehr. Kleine Einblicke in den Alltag Nummer II
Ich trinke Kaffe in der Küche der Caritas. Nachdem mir zigmal versichert wurde, dass die litauische Art Kaffe zu kochen, nämlich heißes Wasser aufs Pulver zu gießen und umzurühren, bestimmt die allerbeste in ganz Europa ist, und nach einer Lehrstunde von Nerijus, dass man im zurückgebliebenen Kaffeesatz sogar die Zukunft voraussagen könne und Litauer das Wahrsagen nuneinmal im Blut hätten, habe ich mich also den großen Schritt in die neue Kultur gewagt. Ich trinke litauischen Kaffee in der Küche der Caritas. Der Direktor der Caritas, Kunigas Robertas, kommt grinsend durch die Tür, schüttelt mir die Hand und begrüßt mich in fließendem Deutsch: „Und, wieviele Frauen hast du heute schon gerettet?“ Er schaut auf die Muschel in meinem Haar und grinst noch breiter. „Du trägst ja viele Kleinigkeiten im Haar! Kleinigkeiten im Haar, die das Leben schöner machen!“
Zweiter Advent, ich backe Vanillekipferl für die Mitarbeiter der Caritas. Den nächsten Tag stelle ich sie in einer Schüssel auf den Tisch mit einem Zettel „Vokiskai sausainai“, deutsche Süßigkeiten. Anderthalbstunden später finde ich die Schüssel leer auf, auf dem Zettel ist ein großer Smiley gemalt und die verbesserte Form „vokiski sausainai“.
Ein brazilianischer Freiwilliger verbringt seine letzte Nacht in Litauen in Kaunas. Er ruft mich an ob wir uns beim italienischen Pizzamann treffen wollen, ja, natürlich können wir das! Ich mache mich auf den Weg, es ist schon dunkel und ein bisschen windig heute. Wann war es je einfach sich von Personen, die eine Wohnung im eigenen Herzen haben, zu verabschieden? Erst vor einer Woche musste ich abends zur Bushaltestelle um den Ukrainer mit den Hosenträgern und den bunten Gedanken vielleicht das letzte Mal zu umarmen, nun also eine andere tolle Person. Auf dem Bürgersteig an der Ecke zwischen Vilniaus gatve und Dauksos gatve steht ein Mann mit Gitarre, der mir auf litauisch hinterherruft, ich solle doch kurz stehen bleiben. Ja? Wieso? Ich solle mir ein Lied aussuchen. John Lennon, imagine there´s no heaven. Und schon bewegt er seine Finger entgegen der Kälte, das Lied beginnt, doch anstatt zu singen sagt er mir, er kenne den Text nicht, ich solle singen. Und das tue ich dann auch, ohne gute Stimme, aber wieso nicht. Habe ich mich soetwas schon immer getraut, frage ich mich kurz, während vorbeilaufende Kinder uns verwundert anschauen. Der Mann verbeugt sich vor mir, ich mache einen Knicks, und schreite meine Reise voran. Mir ist viel leichter ums Herz.
Nach langem hin- und her leben wir nun endlich in unserer Wohnung, in einem kleinen Hinterhof in der Altstadt. Es ist nicht nur das wunderbare Gefühl, wann immer man will direkt hinaus in die Altstadt treten zu können weshalb es mir hier so gefällt, sondern auch die Wohnung selbst. Die für Altbauten typischen hohen Wände lassen die Wohnung anfangs riesig erscheinen, die sowjetischen grünlich-braunen Blumentapeten gleichen das dann wieder aus. Der Besitzer der Wohnung, der Russe Michail, sagte uns, die Dinge in der Wohnung seien noch von seinem Bruder von vor zwanzig Jahren, wir können alles benutzen, wenn wir wollen. Für alle russischsprachigen müsste es hier wie eine fabelhafte Schatzkiste aussehen, Bücher über Bücher, ein Meer aus Kyrillischen Buchstabenflecken, jahrzehntealte Münzen mit Hammer und Sichel, kleine Lenin-Büsten, litauische Gedichte, alte Postkarten und Fotos, man könnte wohl mehrere Tage damit verbringen, alle Schränke komplett durchzustöbern. Die ersten Tage hörte man alle zwanzig Minuten „Habe irgendwas gefunden, weiß aber nicht genau, was es ist!“ Und gerade als wir dachten, jetzt wüssten wir, wo nun was sei, und vor allem was die ganzen Dinge für einen Nutzen haben, rutschten meine Handschuhe hinter die Sitzbank, ich schob sie hervor: „Tamara! Habe ein riesiges Hackebeil hinter der Bank gefunden! Wieso hat man das da?“ – „Der war Medizinstudent.“
„Am Tag vor Weihnachten lernen Tiere sprechen“, erzählt mir Dovilė, vor uns sitzt eine Gruppe Schülerinnen, sonst ist der Troleibus leer. Dovilė hat eine sehr leise Stimme und ich muss mich weit zu ihr hinüberbeugen um sie zu verstehen. „Das sagen wir hier in Litauen so. Es heißt, eines Tages habe ein Bauer sich in der Nacht vor Weihnachten in seinem Schuppen versteckt um die Tiere zu belauschen, und er hörte wie die Gans und der Hund miteinander beredeten, wie schade es doch sei, dass ihr Herr bald sterben müsse. Hört man die Tiere, lebt man nämlich nicht mehr lange.“ – „Keine besonders schöne Weihnachtsgeschichte.“ Sie lacht, und senkt ihre Stimme noch mehr. „Ist keine dieser verweichlichten Christengeschichten mit Krippen und Engeln. Man sollte halt zusehen, dass man nicht hinhört. Viele Familien trinken vorher Mohnmilch, ist auch traditionell, damit sie tiefer schlafen. Fast Opium!“
Wieder im Troleibus, auf dem Weg zum Zentrum, gerade fahren wir an der Synagoge vorbei. Ich sitze in der Mitte am Fenster, nahe des Ausstiegs. Im hinteren Teil des Busses ertönt die Stimme einer stark betrunkenen Frau, sie ist mir shcon vorher aufgefallen durch ihren starren Blick und ihre ungepflegte Kleidung. Ich verstehe nur kleine Teile von dem, was sie durch den Gang schreit „palauk biške, palauk“, -warte ein bisschen- , bin dann aber froh an meinem Ziel angekommen zu sein und mich nicht mehr drum kümmerm zu müssen. Man sieht den anderen Passagieren deutlich an, dass sie krampfhaft versuchen, gleichgültig zu wirken, niemand kümmert sich um die Frau. Wieso hilft niemand? Wieso helfe ich nicht und setze mir lieber die Kopfhörer auf anstatt ihr weiter zuzuhören?
Gerade versuche ich Alessandro, dem Freiwilligen aus Sizilien, klarzumachen, wieso ich denke, dass Litauer im Allgemeinen sehr freundliche und hilfsbereite Menschen sind.
„Kein Wunder dass du so denkst“, erwidert er, „du musst ja auch an komplett kalte Menschen aus Deutschland gewöhnt sein.“ Ich runzle die Stirn. „Wie meinst du das? Kennst du denn so viele Deutsche, dass du meinst, du könntest alle als kalt bewerten? Ich bin auch Deutsche, bin ich auch kalt?“ Mit typisch italienischer Handbewegung versucht er sich zu erklären. Mir fällt immer wieder auf, dass sich jede Sprache, ob Französisch, Englisch, oder Litauisch, aus seinem Mund wie Italienisch anhört. „Du bist ja auch nicht Deutsch! Du kommst irgendwo aus Südamerika vielleicht. Oder bist halt die Ausnahme, aber insgesamt sind Deutsche nuneinmal nicht freundlich!“ Ich lasse das Thema fallen, in solchen Punkten werden wir uns nie einig. Nur meine Gedanken stoppen natürlich noch nicht, und ich überlege mir wie es wohl kommt, dass er so darauf aus ist, alle Menschen einer Nation unter einen Hut zu fassen. Ist es denn bei ihm in Sizilien so, dass alle Menschen sich ähneln und gleiche Charakterzüge haben, wie trist mir das scheint.
Manchmal wünschte ich, ich sei ein bisschen fleißiger im Vokabelnlernen. Ich bin mit meiner Klientin Karolina auf dem Weg zur Kaunas Burg um dort Schlitten zu fahren, als sie plötzlich anfängt leise zu wimmern. Ich schaue zu ihr hoch und sehe Tränen in ihren Augen. Was ist denn, frage ich sie auf Litauisch, es ist doch alles gut. Sie zeigt mit ihrem Zeigefinger nach vorne, dort steht ein Mann an der Ampel und wartet aufs grüne Licht. Er ist groß, schlank, Mitte zwanzig, komplett in Schwarz gekleidet. Ich habe schon öfter bemerkt, dass sie anders ist, wenn sie schwarz gekleideten Männern begegnet. Mir fällt das Wort für „ängstlich“ nicht ein, weder das noch „beruhige dich“, oder ähnliches. „Viskas bus gerai. Ăs esu su tavime.“ Das war leider nicht genug, sie zieht mich am Arm zurück in ihre Wohnung und weigert sich für den Rest des Tages, nocheinmal hinaus zu gehen. „Alles wird gut. Ich bin bei dir.“
Hönamönnen van sattanen hikkasahnän! Sowas oder sowas ähnliches singsangen die vier Finnen vor sich her, während wir uns unseren Weg zum BO erkämpfen. Gestern haben wir die Touristen zufällig in der Stadt kennengelernt und schon nach fünf Minuten haben sie Bekanntschaft mit einem betrunkenen Litauer gemacht, der ihnen auf eine ganz charmante Art klarmachen wollte, dass hier in Litauen andere Regeln gelten. (Mažiukas! Dein Freund kann nicht einfach auf die Straße pissen hier!) An ihrem ersten Tag im belebten Kaunas nahmen sich die vier Freunde aus dem Land der schweigenden Nachbarn folgendes vor, um es in Samis Worten auszudrücken: Schau, vier Finnen haben ab heute fünf Tage Zeit, eine lahme Stadt wie diese zu verändern! Das haben schon einige versucht, denken wir uns, und dann – trotz beinahe zerstörter Brille, Rottweilerhundebiss (der Hund sah doch so niedlich aus) und zig Mahnungen der Security, irgendwie haben sie es doch geschafft, diese Plautzenfinnen.
Donnerstagabend im BO: Eine kleine verhutzelte Bar in der Altstadt von Kaunas. Hier hält sich meist erträgliches Folk auf, all die verschwendeten Genies, kalt gewordene Nachtgespenster, von der Glitzerwelt der „typischen Litauer“ abgeschreckt, irgendwann finden sie sich wohl alle im BO wieder. Nachdem Tamara und ich ein, zwei Utenos Dunkelbiere getrunken haben schleicht sich die finnische Patriotenbande zu uns und schafft es tatsächlich, in dem gemütlichen Ranzschuppen eine Tanzfläche zu finden, nämlich die Tische, und Litauer und Deutsche, die Barkeeper miteingeschlossen, zu idiotischem Rumhüpfen auf den Holtischen zu bewegen, Liedertexte vor sich her zuwimmern, Stoff von den Wänden zureißen und sich daraus weiße Kleider zubasteln. Mission completed! In unserer Wohnung wurde nun die inoffizielle finische Botschaft im Waschraum eingerichtet und auch das BO ist seit diesem Kulturschock auf immer gestempelt von der zauberhaften Ausstrahlung besoffener Finnenfreunde.
Ein wenig alkoholbenebelt traumtanze ich durch die Kneipe und lande, unbewusst, an einem Tisch zweier alter Herren mit Hut und Fliege. Da sie einen starken litauischen Dialekt haben verstehe ich zunächst kein Wort und nicke nur vor mich hin. Der eine, seinen weißen Bart zu zwei Zöpfen geflochten, gießt mir Žalios Devynerios Schnaps ein, der andere nimmt Block und Stift aus seiner Ledertasche und beginnt, mich zu porträtieren. Am nächsten Morgen wache ich mit Kater, widerlichem Geschmack und Zeichnung meines Gesichts neben mir auf.
Ich bin auf dem Weg zurück zur Caritas, den Laptop in der Tasche. Heute morgen habe ich mich endlich getraut, meinen Arbeiterinnen zu sagen, dass ich so nicht auf Dauer weiterarbeiten kann, dass mir meine Arbeitszeiten zuviel werden, und alles aufgestaute kam ich dummen Tränen aus mir heraus. Bis heute abend habe ich also frei gekriegt, und muss dann von sechs Uhr bis etwa zehn oder elf auf eine Klientinnen aufpassen. Heute ist also einer dieser Tage, an denen ich mich am liebsten mit Honigmilch und verweichlichter Musik unter meiner Bettdecke verstecken würde, Handy aus, Kopf aus, Weltraum aus. Aber das geht leider nur sehr selten, so ein Flüchten, also mache ich mich wieder zurück auf den Weg. Vor mir sehe ich die neue Freiwillige aus England, die erst vor zwei Wochen in das momentan sehr kalte Litauen gekommen ist. Als ich sie lächelnd begrüßen will sehe ich ihr Gesicht und ziehe sie in ein Café nebenan, irgendwas scheint sie zu belasten. Und ja, sie erzählt mir von ihren Problemen hier, Heimweh, Orientierungslosigkeit, keine Möglichkeit zu kommunizieren, wer hätte denn je gedacht, dass Litauisch so eine seltsame Sprache sei? Ich höre ihr zu, nicke, trinke meinen Tee, versuche ihr so gut zu helfen wie ich kann, und sehe mich in allem, was sie sagt, mich am Anfang meines Freiwilligendienstes ohne die geringste Idee, wie ich das alles schaffen soll. Schau Tina, dir wird es auch bald besser gehen.
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