Ich möchte Astronaut sein, vielleicht nur für einen Tag…
ich versuche nicht zu zählen, wie viele Tag schon vergangen sind. Ich versuche zu erzählen, wie die Tage vergehen...
…dann steigt einem der Alkohol vielleicht zu Füßen, wenn man mal wieder zu hoch hinaus möchte und hat am nächsten Tag Kater in den Beinen, wie nach 20 km Joggen und nicht im Kopf, wie nach 20 Schnaps (schwerelos ist man sowieso danach) oder so wie Samstagmorgen, als ich schlaftrunken und mit geplatztem Gehirn Richtung AFS Büro schlenderte, weil das nationale Jahrestreffen auf dem Programm stand und ich Kisten ins Auto schleppen musste, was mir so viel Konzentration abverlangte, dass es mir für einen Moment gelang, meine schlechte Verfassung zu vergessen und meinen Job verrichten zu können. Was war passiert?
Freitagabend, ich düste nach Feierabend die 30 km schnell nach Hause aufs Land, packte Wechselklamotten und Zahnbürste in meinen Rucksack, aß ein wenig von dem selbstgebackenem Brot meiner Gastmama, stopfte endlich mal wieder Klamotten in die Waschmaschine und düste schnell wieder in die Stadt, weil mir eine Einladung zu einer Sangriaparty bei einem Mädel mit spanischem Namen zugesteckt wurde. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wo ich übernachten werde. Dass ich nicht nach Hause komme, wusste ich, denn es herrschte Zugchaos, nachdem ein Frühlingssturm die Bahnstrecke nördlich von und nach Stockholm entelektrifiziert hatte und auch sonst für allerlei Chaos sorgte. Donnerstagabend hatten wir zum Beispiel wegen des Sturms keinen Strom zu Hause – alles war dunkel. Zum Glück haben wir alte Öllampen im Schuppen und einen Holzofen in der Küche, so dass ich Nudeln kochen konnte – es fühlt sich so gut an, in manchen Dingen von Dienstleistungsunternehmen unabhängig sein zu können.
Auf jeden Fall traf ich mich mit Tobi an der Station Slussen und noch andere Menschen, die ich nicht kannte, waren da und wir hatten plötzlich 12 Leute im Gepäck, um innerhalb der deutschen Pünktlichkeitszone 30 Minuten vor vereinbarter Zeit in Solna auf der Party aufzukreuzen. Wie das so ist – man kennt das ja – kamen mit der Zeit immer mehr Leute und, ach keine Ahnung, mit wem ich mich alles unterhalten habe. Da war einer aus Bangladesh und viele andere aus Deutschland und Österreich und Italien glaub ich auch und jemand aus Pakistan war da und ein Mädel aus den Staaten, die Film studiert (aber nur die bunte Theorie) und ein Mädel aus Polen und noch ein Mädel aus Zypern, der ich versuchte, ein sauber artikuliertes „Scheiße alter“ beizubringen, weil ich ihr Rotwein über’s Kleid kippte und nach ein paar Bier und drei Runden Jägermeister (jetzt beim Schreiben fällt er mir wieder ein, den darf man im Weltraum nicht vergessen) machten wir uns gegen halb 2 auf nach Lappis, weil dort auch gefeiert wurde….und wie! Der Wohnheimsflur war überfüllt mit Leuten, die sich der Reihe nach auf Sofas stapelten und die Küche war überfüllt mit Leuten, die zur Elektromusik tanzten und die Musik war echt super und die Stimmung war phantastisch und gegen 4.30 Uhr beschloss ich schweren Herzens mich auf den Fußboden von Tobis Zweitzimmer schlafen zu legen, was er sich mittlerweile besorgt hat und an Couchsurfer aus der ganzen Welt verschenkt. Ich hatte eine Isomatte, die sich automatisch mit Luft füllt, wenn man einen bestimmten Mechanismus bedient, aber das war mir in dem Moment nicht möglich und insgesamt auch egal. Das Zimmer teilte ich mir mit Michael, einem lustigen Polen, der in Dublin wohnt und der nur schnell eine Vodkaflasche holte und wieder auf die Party verschwand. Als um halb acht der Wecker klingelte, lag er mit Hemd schnarchend im Bett, neben ihm sein Laptop aufgeklappt, der gefährlich weit über der Bettkante schwebte. Und mein Kopf … oh, wie war das möglich überhaupt aufzuwachen?! Dieser Moment des Erwachens innerhalb seiner eigenen Ursuppe aus Blut und Schweiß und Hölle.
Das Landestreffen von AFS Schweden war super. Es war zwar hart und überaus unmöglich, Samstagmorgen bei Bewusstsein alles zu verfolgen und ich saß anfangs auch nur auf einem Sofa, weil stehen unmöglich und zuhören ganz schlimm war, aber nach 4 Kaffee und 3 Kanelbuller ging es langsam bergauf und ich trat meinen astronautischen Wiedereintritt in die Atmosphäre mentaler Stärke an und nach weiteren zwei Stunden war ich soweit wieder fit im Kopf, dass ich die Diskussionen und Berichte auf schwedisch soweit verstand, dass ich mir Inhalt und Sinn im Kopf zusammenbauen konnte.
Das tolle an diesem Treffen war der Optimismus der Leute, die anwesend waren. Wenn man AFS Deutschland mit AFS Schweden vergleicht, fällt einem auf, dass der AFS Deutschland viel komplexer, viel größer, viel strukturierter und insgesamt viel viel stärker (finanziell sowie logistisch) als AFS Schweden aufgestellt ist. Vieles, was in innerhalb des Vereins in Deutschland selbstverständlich und jahrelang aufgebaut und etabliert wurden ist, muss die Organisation in Schweden noch bzw. wieder entwickeln. Der Bedarf ist da, nach diesem Wochenende glaube ich auch, dass der Wille bei vielen der Leute, die hier mitmachen, vorhanden ist – jetzt muss man langsam Strukturen und Wissen aufbauen und festigen, die nötig sind, um darauf aufbauend sich weiter entwickeln zu können – und das fängt bei ganz elementaren Dingen an. Vorbereitungs- und Nachbereitungskonzepte von Austauschschülern zum Beispiel, um so früh wie möglich als Mitarbeiter ein Motivator und Vorbild für jene Leute sein zu können, die nach ihrem Austauschjahr mitarbeiten wollen. Und ich bin froh, das ich meine Erfahrung aus Deutschland hier so vielseitig einsetzen kann. Die ganzen AFS-Jahre in Deutschland machen jetzt auch woanders Sinn.
Inspirierend war der Besuch aus Ägypten, den wir hatten. Eine junge Frau wurde eingeladen, um allen Anwesenden die tiefenpsychologischen Theorien des weiten Spektrum interkulturellen Lernens theoretisch und mit lustigen und amüsanten Übungen auch praktisch zu zeigen (Hofstede, DMIS, etc) . Das dauerte das halbe Wochenende und lief zum Glück auf englisch, so dass ich mich voll auf den Inhalt und nicht auf die Enkodierung einer Fremdsprache konzentrieren musste. Ich habe es leider nicht geschafft, mich über die aktuelle Lage in Ägypten zu unterhalten und mich stattdessen nach Uppsala einladen lassen, weil dort zur Walpurgisnacht ausnahmslos alle hin wollen.
Mit dem Vorstand diskutierten wir über den Masterplan eines Symposiums mit hochrangiger Besetzung zum Thema, wie interkulturelle Erfahrung einen Beitrag für eine friedvollere Welt zu leisten vermag. Die ganze letzte Woche kämpfte ich mich durch die Funktionen komplizierter Grafikprogramme und gestaltete das Logo dieses Spektakels.
Und Sonntag war alles vorbei – mein Kopf war wieder aufgeräumt, Folgeschäden von Freitag habe ich nicht davongetragen, die Sonne schien, die Luft war trocken und warm. Das perfekte Wetter, das Astronauten niemals haben werden, wenn ihnen das Bier zu Füßen steigt.