Ich bin Europäer, nichts anderes kann ich sein
Eine etwas andere Geschichte über einen entfremdeten Europäer, der sich auf die Suche nach dem Nichts begibt...
Ich bin Europäer, nichts anderes kann ich sein. Ich habe Durst, unstillbar großen Durst. Die einzige Möglichkeit noch etwas zu trinken zu bekommen ist, glänzende Scheibchen aus Metall, in eine Vertiefung eines rot-weissen Schrankes zu schieben. Ich drücke auf ein blinkendes Lämpchen, und der Schrank beginnt plötzlich eigenartig zu rumpeln und rumoren als würde ein Stein einen Hang hinabrollen. Im unteren Teil des Schrankes entdecke ich eine Art Schublade. Ich öffne sie und finde darin ein buntbemaltes Erdölgefäss, welches eine trübe Flüssigkeit umhüllt. Als ich das Gefäss öffne, entweicht ihm ein pandoraartiges Zischen, ich rieche daran, nehm‘ einen Schluck und stelle fest, dass es eigenartiger Weise nach süßer Pisse schmeckt.
Während sich meine Kehle mit der seltsamen Flüssigkeit vertraut macht, schau‘ ich wie gebannt auf die Fluten und Wellen des mächtigen Stroms, der neben mir tosend daher zieht. Ein Gefühl macht sich in mir breit, undefinierbar.
In einiger Entfernung sehe ich bunte Lichter, Rauch, Feuer und ja…ja ich seh‘ Menschen, Menschen! Ich hab‘ seit Ewigkeiten keine Menschen mehr gesehen. Ich steiger‘ das Tempo, will ihnen in die Augen schauen, fang‘ an zu laufen, will mit ihnen sprechen, sie berühren, ihnen in die Arme fallen. Wo sind sie? Ja, dort vorne! Ich laufe noch schneller, winkend ruf‘ ich: “Hallo! Hallo! Ich freu‘ mich ja so sehr euch zu seh‘n, hab‘ so viele Geschichten, die ich euch erzählen könnte, und Witze, ja jede Menge, ja sogar den grössten und allerbesten Witz, wollt ihr ihn hören? Ja? … Hallo?“ Keine Antwort, keine Regung, alles erstarrt in ekstatischer Bewegung, dröhnende Wellen und blitzende Lichter, glasige Augen in grauen Gesichtern.
Enttäuscht kehr’ ich der Menge den Rücken, sie seh’n mich nicht, ihre Sinne sind vernebelt, da ist es wieder, dieses Gefühl, als wenn es irgendwie ganz plötzlich schrecklich kalt wird. Irgendwie…einsam, als würde etwas fehlen. Ich suche danach und finde ein funktionstüchtiges Fahrrad, wahrlich gleich nach dem Feuer die beste Erfindung des Menschen. Sogar noch Luft in den Reifen, ich kann mein Glück kaum fassen. Ich folge weiter dem Weg, entgegen dem Strom, irgendwann und irgendwo muss der ja anfangen oder aufhören oder sogar beides. Wenn ich erstmal dort angekommen bin, vielleicht kann ich dann an der Quelle einen Staudamm bau‘n, ein bisschen auf der Erde sitzen und meditier‘n oder ein paar Steine aufeinander stapeln und im Gleichgewicht ausbalancier‘n.
Langsam sollt‘ ich mich auch mal um etwas zu essen kümmern und um eine sichere Unterkunft für den Tag. Der Gedanke an den Tag lässt mich schlottern, so viele Risiken, so viele Gefahren und Unwägbarkeiten. Dort vorne, ein verlassenes Bauernhäuschen, sieht noch recht intakt aus, vielleicht kann man da ja noch einen Schatz bergen, aber auf jeden Fall den Tag verbringen. Bingo, im Keller ein Kasten mit verstaubten Flaschen Dunkelbier Anno ´27 und ein paar Dosen Ravioli Pikante im Küchenschrank, hmm das wird ein Festschmaus.
Aber das Beste ist, dass ich im Schlafzimmer, neben dem Bett, eine wundervolle Ausgabe meines Lieblingsbuches finde, ich hab es wohl an die 108 Male gelesen. Die Geschichte handelt von einem jungen Mann, der entdeckt, dass er über ungeahnte Zauberkräfte verfügt. Er setzt sie ein für das Gute, findet tolle Freunde und erlebt mit ihnen aberwitzige Abenteuer. Er kämpft gegen Dämonen, begegnet unglaublichen Fabelwesen und besiegt letztendlich sogar das Böse. Das Finale ist einfach nur atemberaubend und ich bekomme jedesmal eine Gänsehaut wenn ich dem Ende entgegen fieber’.
Der Held wird von einem seiner Freunde für eine Hand voll Dollar verraten, verkauft und von der herrschenden Elite zum Tode verurteilt. Doch das Beste kommt noch, nachdem man eindeutig seinen Tod festgestellt hat, wird sein Körper von seinen Freunden in einer Höhle versteckt und der Zugang mit einem riesigen Stein verschlossen, der dann aber plötzlich wie von Geisterhand bewegt beiseite rollt, der Held lebendig und im strahlenden Gewand vor seinen Freunden steht, ein paar nette Worte sagt und *vruuuuumm* ab in den Himmel fliegt. Echt abgefahren, ich liebe diese Stories mit leicht übertriebenen Handlungselementen, da bleibt immer genug Spielraum für Spekulationen.
Als ich am nächsten Abend zwischen zerbrochenen Bierflaschen und einer vollkommen zerfledderten, mit Ravioli beschmierten und überall im Zimmer verteilten Ausgabe von Harry Potter aufwache, keimt in mir der Gedanke, dass sich langsam mal was ändern muss.
Ich berufe eine innerliche Vollversammlung ein, um einen Repräsentanten aus unseren Reihen zu wählen. Nach mehreren Fällen von Wahlbetrug durch die „Böser Engel Gemeinschaft“ (BEG), einer gelungenen Wiederabsetzung des „Guter-Engel-Bund“ (GEB) durch ein Misstrauensvotum der opportunistischen Pessimisten-Fraktion und einer festgestellten und verurteilten Wählerbeeinflussung durch die „Feine Rauchwaren und Milde Spirituosen Lobby“ (FRUMSL), die sich aber schon kurze Zeit später wieder auf freiem Fuss befand, da sie die hochgradig süchtigen Gefängniswärtern mit 6 Stangen Jin-Lin und 3 Flaschen Fürst Uranov bestechen konnte, wurde eine Groko gebildet und ein sogenannter „Doppelter Kanzler“ gewählt, dieser wiederum wegen fehlendem Durchsetzungsvermögen vom Volk entmachtet. Es wurde die Revolution ausgerufen, danach kam es zur Konterrevolution dicht gefolgt von der Gegenkonterrevolution. Nach mehreren Religions- und Bürgerkriegen einigte man sich darauf in eine Kommune zu ziehen, eigenes Bio-Gemüse und Gras anzubauen und die Freizeit mit Kunst, Musik und freier Liebe zu verbringen.
Mein Name ist Fremd und ich bin Europäer, nichts anderes kann ich sein.