"I don't like Kaunas anymore", sagte Mariela nach diesem Abend zu mir
Beim Weggehen in Kaunus wird unsere Gruppe Zeuge eines Verkehrsunfalls.
05.09.2010
Vielleicht ist es an der Zeit nicht nur Positives zu berichten. Was nicht heißen soll, dass es mir nicht gut geht, nur dass langsam auch Dinge passiert sind, sie mich, diesmal im negativen Sinne, stark genug beeindruckt haben, dass ich sie berichten will.
Um 3 Uhr morgens mache ich mich mit ungefähr 15 anderen Volunteers/ Freiwilligen/ Savanores, größtenteils aus Frankreich und Deutschland, im Zentrum von Kaunas, der zweitgrößten Stadt Litauens, von einer Bar auf den Weg in Richtung der Bushaltestelle, eines Taxistand, einer Wohnung einer Freiwilligen oder einer anderen Bar – so ganz klar ist das unserem multikulturellen, teils betrunkenen Haufen leider nicht, und vielen, die keinen deutschen Drang nach Planung verspüren, ist das auch gleichgültig – als vor meinen Augen eine junge Frau von einem Auto angefahren wird.
Ich stehe da, warte mal wieder auf irgendjemanden, der so langsam, gemütlich geht, blicke nach hinten, die Straße entlang – wir befinden uns mitten in der Altstadt, auf einer kleinen Straße mit Kopfsteinpflaster – als ich sehe, wie eine Gestalt von einem Auto wegfällt. Im ersten Augenblick frage ich mich, ob sie aus dem Auto herausgefallen ist, doch sofort begreift mein Verstand die Situation: Das Auto, das jetzt zuerst etwas langsamer wird und dann sofort mit quietschenden Reifen davonfährt, muss die Frau beim Überqueren der Straße übersehen haben.
Schon rennen andere Menschen, die dem Unfall näher sind, dem Auto hinterher, andere laufen zu der Frau, die jetzt reglos auf dem Boden liegt. Diego, ein spanischer Freiwillige mit fundierten ersten Hilfekenntnissen, der neben mir stand, drückt mir sein Bier in die Hand und sprintet gemeinsam mit einem Freund eines französischen Freiwilligen, der Krankenpfleger ist, auf den Unfallort zu. Die meisten anderen Freiwilligen, die bereits weiter weg sind, scheinen den Unfall nicht bemerkt zu haben. Für kurze Zeit bin ich geschockt, bin so überrascht, bin fast gelähmt, da ich nicht weiß was ich tun soll, wie ich helfen kann – ich spreche weder gut genug Litauisch, um einen Krankenwagen zu rufen, noch kann ich wirklich Erste Hilfe leisten - doch dann laufe ich schnell zu meinen Freunden: „Hey wait -“, mir fehlen die Worte, „Over there – a girl was just hit by a car!“ Zwei leicht angetrunkene Deutsche, die schon einige Monate hier sind, fangen bei meinen Worten an zu lachen, sehen mich an und singen: „Welcome to Lithuania!“.
Ich komme mir wie vor den Kopf geschlagen vor: sie scheinen den Ernst der Lage nicht zu verstehen. Ich lasse sie stehen und wende mich wieder dem Unfall zu, sehe wie Pierre, Diego und ein Litauen den Puls der Frau messen, zwei junge Frauen, wahrscheinlich Freundinnen der Verletzten sich die Hände auf den Mund pressen und ein junger Mann aufgeregt auf litauisch in sein Handy brüllt.
Er muss die Polizei gerufen haben, den kurze Zeit fährt die „Policija“ vor. Gerade rechtzeitig, denn aus mir unerklärlichen Gründen, beginnen zwei Schaulustige sich anzubrüllen, der eine beginnt auf den anderen einzuschlagen, bis die Polizisten die beiden trennen.
Kurze Zeit später kommt auch der Krankenwagen und nimmt die Frau, die zwar atmet und ihre Hände bewegt, aber mit offenen, starren Augen keinerlei Reaktionen zeigt, mit. Für unsere Gruppe, ist das Feier an diesem Abend gelaufen - oder zumindest für den nüchternen Teil. Die Leute, die den Unfall gesehen oder geholfen haben, sind geschockt, leicht passiv und nicht mehr in Feierlaune. Manche andere zeigen keinerlei Betroffenheit, wollen weiter in die nächste Bar oder sonst wohin.
Es ist schwierig eine Gruppe internationaler Leute in den verschiedensten Gemütszuständen um 5 Uhr früh in einer Stadt zu einer gemeinsamen Entscheidung zu bringen, wir stehen viel rum, reden viel rum, manche trinken weiter. Schließlich nehmen wir endlich einige Taxis, die uns an den Rand der Stadt zu einem 24/7 Kebabladen bringen, in die Nähe der Wohnungen der Freiwilligen aus Kaunas, wo wir alle schlafen wollen.
Dort liegt dann neben der Straße ein sehr betrunkener, offensichtlich schlafender – er schnarcht zumindest - ungefähr 60 jähriger Mann, in dreckigen Klamotten, dem gelber Schleim aus seinem Mund über die ganze linke Backe hängt. Mein Abend ist definitiv gelaufen, als zwei litauische Mädels, die auch vor dem Kebabai (so nennt man den Kebabladen hier) warten, mit einem Blick auf den Alten, der inzwischen aufgewacht ist und sich bei 7 Grad, zwischen Scherben auf dem nassen Boden sitzend, eine neue Dose Bier öffnet, „This is normal“, sagen.
Mariela meint dazu trocken: „You will have to get used to it“, in Litauen sehe man so etwas ständig, in Bulgarien sei das ähnlich.
Doch sie stimmt mir zu, dass man sich an so etwas eigentlich nicht gewöhnen sollte und werde mich nicht daran gewöhnen, lieber fühle ich mich jedes Mal, wenn ich so etwas sehen sollte, extrem unwohl.
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