Hiinalinna aiamaad
Es soll eine Straße gebaut werden, die von Tartu direkt über das neue Nationalmuseum Richtung Norden führt und lange Umgehungsstraßen ersetzten kann. Dabei ist die Gartenkolonie „Hiinalinna aiamaad“ im Weg und es entstehen Bürgerinitiativen und Unstimmigkeiten unter den lokalen Politikern. Großzügig wurde angeboten, die Gärten ein paar Kilometer nach Westen zu verschieben, was aber kaum eine Lösung für die durchschnittlich 80 Jahre alten Gärtner darstellt.
Während der Sowjetregierung wurden Bürger aus verschiedenen „sozialistischen Bruderländer“ in einem Militärgebiet im Norden Tartus untergebracht, das daraufhin „Hiinalinna“ (Chinatown) genannt wurde. Die meisten Bewohner von Hiinalinna haben daher keine geklärte Staatsbürgerschaft und sprechen größtenteils nur russisch. Die Gärten stellen eine Heimat für Heimatlose da, die dort bereits seit über 60 Jahren leben, jedoch kaum Kontakt mit der Bevölkerung Tartus haben. Die Bewohner kommen aus Russland, Polen, der tschechischen Republik, Finnland, der Ukraine und vielen anderen Ländern. Die meisten sind zwischen 70 und 100 Jahren alt, doch auch ein 9-jähriger Junge hat seinen eigenen Garten und junge Familien kommen in ihr Gartenhaus. Wer bereits seit 15 Jahren seinen Garten bewirtschaftet, wird zwar immer noch als Neuling betrachtet, ist aber deshalb nicht weniger Teil der Gemeinschaft.
Um sich über Wasser zu halten, wurde die Brachfläche des Militärgebiets von den Anwohnern für den Anbau von Gemüse, Kartoffeln oder Obstbäumen genutzt. Im Laufe der Jahre hat sich die Gartenkolonie zu einer kleinen Stadt mit einer eigenen Infrastruktur entwickelt. Kanäle werden für die Bewässerung gepflegt, kleine Brücken werden in Stand gehalten. In der gesamten Gartenkolonie wird keine chemischer Dünger verwendet, da die Gärtner noch viel Wissen über den natürlichen Anbau von Pflanzen mitgebracht haben. Die Grundstücke sind mit improvisierten Zäunen umgeben, wobei alles an Material verarbeitet wird, was zu finden ist. Haustüren und Fenster finden einen neuen Nutzen als Gartentor oder kleines Gewächshaus. Selbst wenn ein Zaun fehlt, findet man eine Tür zu jedem Garten, da der symbolische Eintritt in die Privatsphäre sehr hochgeschätzt wird. Ein typischer Garten besteht aus einer kleinen Hütte, einem Gewächshaus und ein paar Beeten. Andere habe sich jedoch auch auf ein bestimmtes Gemüse spezialisiert, pflanzen Blumen oder halten ein paar Hühner. Obwohl jeder sein eigens Grundstück bewirtschaftet, besteht eine sehr starke Gemeinschaft unter den Besitzern der Gärten. Leerstehende Grundstücke werden für symbolische Preise an jeden vergeben, der Lust hat, sie zu nutzen. Die Grundbesitzfrage bleibt ungeklärt, da die Gartenkolonie natürlich gewachsen ist, zu Zeiten in denen freie Flächen selbstverständlich genutzt wurden. Heutzutage wird diese Ungewissheit jedoch zum bürokratischen Problem, da die Bewohner nahezu hilflos sind gegenüber den Straßenbauplänen der Stadt.
Es hat sich eine Initiative gebildet, die die Interessen der Gärtner vertritt, die aufgrund des hohen Alters und der Sprachunkenntnisse kaum fähig sind, ihre Rechte einzufordern. Vor allem soll gezeigt werden, was die Bewohner von „Hiinalinna“ täglich leisten und wie schützenswert die liebevoll gepflegten Gärten sind. Die meisten Bewohner Tartus haben von „Hiinalinna“ nur als Problemviertel mit ausschließlich russischsprachiger Bevölkerung gehört. Tatsächlich hat der Stadtteil einen schlechten Ruf, der schlicht und einfach unverdient ist. Die Bewohner der Gärten halten das Gebiet instand und räumen den Müll weg, der regelmäßig dort abgeladen wird. Manche der alten Gärtnern haben ein paar Eigenheiten, werden jedoch von ihrer Gemeinschaft einfach als ein bisschen verrückt bezeichnet und dennoch voll akzeptiert. Zudem gilt die Gegend als kriminell und gefährlich, was jedoch ebenfalls nicht der Wahrheit entspricht. Tatsächlich wurden die Gartenbesitzer Opfer von mehreren Feuern, die ein Brandstifter diesen Frühling entfacht hat und bei denen viele der Gartenhütten verbrannt wurden und eine Bewohnerin ums Leben gekommen ist. Daraufhin haben alle gemeinsam mit den Aufräumarbeiten begonnen und die zerstörten Gärten wiederaufgebaut. Die neuen Zäune wurden von einer Künstlerin besprayt und schon bald wollten alle einen bunten Zaun haben. Im Rahmen einer großen Aktion haben also 80-jährige zu Spraydosen gegriffen und die Gartenkolonie noch bunter gemacht.
Die Stadt hat nun auf den Wunsch der Bewohner eine Kamera-Attrappe aufgestellt, mit der sich die Gärtner etwas sicherer fühlen. Zudem leiden die Gärtner unter ständigen Diebstählen von ihrem Gemüse und Altmetall und sind daher skeptisch gegenüber Fremden. Sobald man sich jedoch vorstellt und erzählt, dass man sich für ihre Arbeit interessiert, sind sie sehr freundlich und bereit, stolz ihre selbst gebaute Sauna zu zeigen. Die größte Angst von vielen ist jedoch die Unsicherheit gegenüber der Zukunft. Einige habe dieses Jahr nicht einmal angepflanzt aus Sorge, dass sie ihren Garten verlassen müssen. Neben den Touren, die die Initiative anbietet, um sich ein eigenes Bild der Gärten zu machen, postet eine Fotografin auch Bilder von den Menschen in ihren Gärten und erzählt ihre Geschichten.
Trotz der vielen Steine, die den Gärtnern von „Hiinalinna aiamaad“ in den Weg gelegt werden, bleiben die meisten Optimisten und stehen weiterhin jeden Morgen gegen 5:00 Uhr auf, um ihren Garten zu bewirtschaften.