Herbst im Europa-Kindergarten – Ein Eindruck
Johannes Hechler, 21, erprobte sich zunächst als Tagebuchschreiber, bevor er einen Eindruck über den Besuch seines Großvaters in Frankfurt an der Oder und im angrenzenden Polen niederschrieb. Ein Spaziergang zwischen deutsch-polnischen Welten.
Ein kaltes Wochenende im Oktober. Der Winter kündigt sich an; eine weißliche Sonne scheint machtlos durch die eisige Luft wie auf Glas. Ich besuche meinen Opa in Frankfurt an der Oder, direkt an der deutschen Grenze zu Polen. Vor sechs Wochen bin ich von meinem Europäischen Freiwilligendienst in England zurückgekommen und ich bin hungrig, wieder etwas Fremdsprache um mich zu hören, darum fahre ich zur Grenze. Denn am anderen Ende der breiten Brücke über die Oder liegt Słubice, ein Nest von 15.000 Einwohnern und einer ständigen Vertretung deutscher Einkaufstouristen. Seit meiner Kindheit sehe ich es bei jedem Besuch auf der anderen Seite des Flusses, doch gewesen bin ich dort noch nie. Hier, in diesen grenzüberschreitenden Städten, räumlich getrennt von kaum fünfhundert Metern, will ich dieses fortschreitende Vermischen von Menschen, ihren Sprachen und Kulturen finden, welches mir das junge Projekt Europa so attraktiv macht. Denn abseits der offizieller Reden und Feiern muss es sich ja bei ihnen bewähren, den Menschen. Mal sehen, wie es am Fundament des Kontinents aussieht.
Annahme verweigert
Die Oberen des kleinen Frankfurts bemühen sich, Nutzen aus der Grenzlage zu ziehen. So wurde vor einigen Jahren die alte Universität „Viadrina“ wieder eröffnet, zum internationalen und Europa-Projekt erkoren, mit einem weithin guten Ruf und einem Drittel der Studenten aus dem Nachbarland. Sie nehmen inzwischen einen spürbaren Einfluss auf das Ortsbild und seine Atmosphäre. Das fällt mir auf, als wir morgens Einkaufen gehen. Das und das in den Supermärkten nun auch auf Polnisch „Danke“ gesagt wird und nicht, wie noch vor einigen Jahren lediglich, dass jeder Diebstahl zur Anzeige gebracht wird.
Am Nachmittag gehen wir spazieren, durch beide Orte, Frankfurt und Słubice. Zuerst auf den Ziegenwerder, einer kleinen baumbestandenen Insel in der Oder genau vor der neuen Unimensa. Vor zwei Jahren wurde hier zur EU-Erweiterung mit großem Aufwand und Aufmerksamkeit ein ganzer Europagarten eingerichtet um das Zusammenwachsen des Kontinents im Allgemeinen und der Region im Speziellen zu feiern. Die Fotos meiner Mutter auf einer Sonnenliege auf dem „Palmenstrand“ sind mir noch gut im Gedächtnis, wie auch der Tenor von der endgültigen Wiedervereinigung des Kontinents. Die Vereinigten nutzen es seitdem für ihre weniger idealistischen Bedürfnisse als eher ruhigen Park. Und wenn man meinem Opa glauben darf, kann man hier inzwischen sogar Polenspazieren gehen sehen, ab und zu.
Entlang des Hauptwegs der Insel sind verschiedene Installationen angeordnet. Ein leerer Platz mit einer Bühne und einem Imbisscontainer ist da. Doch es ist Herbst und alles hat zu, nur einige nackte weiße Metallstäbe ragen in den Himmel, vermutlich Fahnenstangen. Einige Meter weiter ist, zwischen Bäumen, der Kinderspielplatz „Luftpost“. Tatsächlich sind in ein Stück Wald Hütten in Form von Packkisten konstruiert worden, die dort liegen wie abgeworfen und nicht aufgesammelt. Sie tragen Aufschriften wie „200 Scheiben Dudelsäcke“, als Symbol der Geschenke der verschiedenen Mitgliedsländer zur Beitrittsfeier. Dazwischen verlaufen Balkenwege, die laut der Besuchertafel einen Stern formen, mit so vielen Zacken wie es Sterne auf der Flagge Europas gibt. Die Pfade verlaufen etwa einen Meter über dem Boden, vermutlich wird es dort unten manchmal sumpfig und trägt nicht so gut. Den Mantelkragen hochgeschlagen und die Hände in den Taschen gehe ich auf den Strahlen. Doch es ist Herbst, und zwischen dem feuchten, braunen Laub auf der Erde liegt Müll, der von den Besuchern dort hingeschmissen haben. Nur zwei Elternpaare lassen ihre Kinder in den Geschenken Europas spielen.
Fassadeneinheit
Am Nachmittag gehen wir hinüber nach Polen selbst. Wie so viele Städte östlich der Elbe ist auch Słubice frisch restauriert; man riecht fast noch die Farbe von den Fassaden. Wir laufen eine große Runde, über den winzigen Hauptplatz mit seinem neuen Springbrunnen und dem von Hunden bewachten besseren Wohnviertel. Entlang der südlichen Straße nach Warszawa, vorbei an den bis unter die Decke mit Zigarettenstangen voll gestopften Läden, den marginal getarnten Bordellen der Grenzregion, einem großen Basar und dem Stadion, dessen Monumentalarchitektur noch aus den deutschen 1920ern stammt. Zurück durch Schrebergärten und vorbei an Invest-Ruinen. Der einzige Weg führt durch eine Wildnis aus gestampftem Sand, begrenzt von Gräben zugeschüttet mit Laub und Müll. Durch Büsche schlagen wir uns durch die real existierenden Folgen des vergangenen Arbeiterparadieses, ein nicht ganz so vollständig saniertes Viertel von Wohnblocks.
Słubices vermutlich größter Trumpf sieht ähnlich aus. Aus einem Sammelsurium von Wohnwagen, Plasteplanen und Pressholztischen fügten sich gleich nach der Wende mehrere Märkte jeder Größenordnung und mit dem Charme eines Schrottplatzes, auf denen sich Scharen Deutscher mit billigen Waren eindecken. Hier kauft man alles: Radios, Seife, sogar Wasserflaschen. Vieles ist inzwischen gar nicht mehr billiger oder lohnt den Aufwand kaum. Die Menschen kommen trotzdem, schließlich lässt man sich das gute Gefühl eines Schnäppchens nicht so einfach nehmen: Polen hat ein neues selbst laufendes Stereotyp bekommen und dagegen haben es Fakten schwer.
Money talks
Gesprochen wird hier kaum. Wenn, dann Deutsch und übers Geschäft; sprechen tut das Geld, der eine hat es, der andere will es, das ist das Zusammenwachsen dieser Region. Die Nummernschilder des Parkplatzes lesen sich wie ein vollständiges Orts-Register Ost- und Mitteldeutschlands. Aus der halben Republik werden hier busseweise Butterfahrer rangekarrt, um in Gruppen die Märkte zu stürmen, sich umzudrehen und schnellstmöglich zu den Bussen zurück zu flüchten.
Auf der anderen Seite spricht zwar so gut wie jeder mindestens ein bisschen Deutsch, doch beschränkt man sich auf die wenigen notwendigen Brocken der gemeinsamen Interessenschnittfläche. Es ist schwer, und vielleicht auch unnötig, keinen schlechten Eindruck davon zu bekommen, was hier die meisten von der jeweils anderen Seite halten. Ohne uns wirklich anzusehen hebt eine junge Frau routiniert den Kopf, als wir an ihrem Stand vorbeilaufen. „Steinpilze, gute Steinpilze“.
Wir machen Pause in einer Bäckerei mit angeschlossenem Café. Während die überforderte Bedienung hinter der Theke mit einem Gesicht auf- und abhetzt als galoppierte der kopflose Reiter hinter ihr her, dreht sich eine wartende Kundin plötzlich zu mir um wie zu einem Leidensgenossen und meint „Sach ma, steh ick hier falsch oda wat?“. Eine andere diktiert gerade dem Bäcker „Ja das Stück... teilen... T-E-I-L-E-N!“ Etwas später bekommen wir unseren Kaffee. „Wie bezahlen? Euro oder Złotych?“. Die Kellnerin lacht überrascht als wir uns bedanken, ob wegen des Fakts an sich oder weil wir es in der Gastsprache versuchen fällt Vermutungen anheim.
Es wird Abend und auch wir gehen über die Oderbrücke wieder zurück auf die andere Seite. Als wir am Hochhaus der Europa-Universität vorbeikommen, zeigt mein Opa davor auf eine unscheinbare Durchgangsstraße und eine handvoll Parkplätze. Hier soll vielleicht einmal ein Campus entstehen. Gerade läuft darüber eine Diskussion in der Lokalpresse: Besorgte Anwohner weisen auf die Unverzichtbarkeit der zweihundert Meter Asphalt hin. Wozu braucht Frankfurt eigentlich einen Campus? Und diese ganzen fremden Studenten? Und sowieso, was bringt uns, hier, in unserem Frankfurt, überhaupt eine Europa-Universität?