Heimkehr aus Verdun
Mein Freiwilligendienst bei der Freilichtevokation "Des Flammes á la Lumière" in Verdun bedeutete für mich eine emotionale Auseinandersetzung mit den Schrecken des ersten Weltkrieges und eine Reise zu den Fundamenten des Friedensprojekt Europa - Eine Erfahrung, die mich zu einem Kämpfer für den Frieden gemacht hat.
Morgen würde endlich mein Zug nach Verdun abfahren. Mein Herz ist voller Vorfreude und mein Kopf voller Erwartungen für meinen Europäischen Freiwilligendienst, den ich Frankreich, genauer gesagt in Verdun abhalten würde. Hier würde ich bei der Freilichtinszenierung « Des flammes… á la lumière » über den ersten Weltkrieg und die Schlacht von Verdun mitwirken. Plötzlich halte ich inne.
Vor 101 Jahren stünde an meiner Stelle ein Soldat. Woran er wohl dachte, als er in den Zug stieg, um in die Schlacht von Verdun zu ziehen? Hatte er Angst oder fühlte er Stolz? War er siegesgewiss oder hatte er beim Aufbruch Abschied für immer genommen? Ich merke, dieser Auslandsaufenthalt würde eine Reise werden, die mich prägen würde.
Frieden in Europa, offene Grenzen und Urlaub im Ausland sind für mich etwas Selbstverständliches - nie hatte ich etwas anderes kennengelernt. Frankreich, das war für mich einen Katzensprung entfernt und mehrmals hatte ich schon meine Ferien hier verbracht. Obgleich ich große Vorfreude verspürte erhoffte ich mir von meinem Auslandsaufenthalt zunächst vor allem meine Französischkenntnisse zu verbessern und mein Geschichtsverständnis zu vertiefen.
Verdun, etwa eine Woche später. Ich liege im Schützengraben – neben mir liegt ein Gewehr. Der grobe Stoff der Soldatenuniform kratzt an den Beinen, die Kiesel im Boden piksen. Es handelt sich um die Generalprobe. Mittlerweile hatte ich schon viele Kontakte geknüpft und mich in Verdun richtig eingelebt. In wenigen Momenten würden wir die Attacke der deutschen Soldaten proben und ich zerbreche mir gerade den Kopf darüber, wie ich möglichst überzeugend meinen Tod im Gefecht darstelle. Dann ein anderer Gedanke. Ein paar Tage zuvor war ich im Beinhaus von Douaumont gewesen. Die Gebeine 300.000 toter, unbekannter Soldaten liegen hier. Hier hatte ich eine Inschrift entdeckt. Mit 19 Jahren war er in den Krieg gezogen und gestorben. Während ich in Verdun willkommen geheißen wurde, Hobbys aufnahm und von Deutschland erzählte, erwartete den Soldaten hier eine menschenfeindliche Mondlandschaft und er blickte in Gewehrläufe. Wegschauen, das ist in Verdun unmöglich. In dieser Stadt, die gleichzeitig ein Mahnmal ist. Wenn ich morgens aus meinem Fenster auf das Feld schaue kommt mir früher oder später der Gedanke, wie viele Tote dieser Boden birgt, wie viele Leben dort ihr Ende nahmen.
Zwei Monate später, meine Zeit in Verdun neigt sich dem Ende zu, ich kehre zurück. Die Schlacht von Verdun, sie dauerte 300 Tage, kostete jeden Tag 2.000 Männern das Leben. Der Horror, den der Soldat sah, er bleibt für uns unfassbar. Wie viel Angst hatte er gefühlt? Wie viele Tote hatte er gesehen, wie oft selbst getötet? Fühlte er bodenlose Angst, oder unmenschlichen Hass? Kein Mensch kann so einem Grauen standhalten und deshalb macht es keinen Unterschied, ob er atmend oder unter der Erde verscharrt aus dieser Schlacht von Verdun zurückkehrte. Ein Teil von ihm ist hier für immer in den Schützengräben von Verdun gestorben.
Und ich? Wie kehre ich zurück? Meine Zeit in Verdun schenkte mir persönlich mehr, als ich mir jemals hätte vorstellen können. Würde ich sagen, dass sich mein Französisch verbessert hätte und meine Kenntnisse über die Geschichte Europas ausgeweitet hätte, so wäre das die Wahrheit, würde jedoch nur einen Bruchteil der Erfahrungsschatzes beschreiben, der Verdun für mich bedeutet. Ich lernte, im Fremden ein zu Hause zu finden und eine Sprache zu denken. Ich lernte neue Freunde lieben und die Geschichte eines Orten zu fühlen. Vor allem aber lernte ich eines, unseren Frieden in Europa zu schätzen.
Dass ich diesen Europäischen Freiwilligendienst antreten durfte ist das Erbe dieses unbekannten Soldaten. Unser Europa, das sich nicht durch nationalistischen Hass, sondern durch die Bereicherung an der Diversität nährt, wurde auf den Leichen zweier Weltkriege erbaut. Und zum ersten Mal fühle ich so etwas wie persönliche Verantwortung dieses Erbe zu schützen und für unseren Frieden zu kämpfen.
Comments