Halbzeit
über eine Reise in der Reise, mein midterm Seminar und eine Portion Selbstreflexion
Halbzeit – über eine Reise in der Reise, mein midterm Seminar und eine Portion Selbstreflektion
„Und wenn wir einfach nach Perpignan gehen? Mit dem Bus nach Pont du Gard klappt nicht, auch wenn wir es so sehr wollen. Avignon ist die falsche Richtung. In Montpellier waren wir schon letztes Mal. Béziers ist zu überschaubar. Für Barcelona reicht die Zeit nicht aus und in Nîmes haben wir in den letzten zwei Tagen bereits alles erkundet.“ Ich zu meiner Mitfreiwilligen, Mitbewohnerin und Mitreisenden Ema. Wir befinden uns in Nîmes in einer internationalen Freiwilligen-WG und am nächsten Tag sollte unser midterm Seminar in Narbonne starten. „Zug, Bus, Blabla car, trampen?“ In wenigen Minuten wurden die besten Möglichkeiten recherchiert und dann stand fest, wir würden den nächsten Tag in Perpignan, direkt an der spanischen Grenze, verbringen. Und dank der Sonne wurde dieser Tag zu einem wunderbarem. Es war meine beste Spontanreise, eine Reise in der Reise, da wir ja schon auf Reisen waren. Und das Highlight hätten wir fast umgangen: Der Palast der Könige von Mallorca.
Die kommenden vier Tage habe ich 25 andere Freiwillige stationiert in ganz Frankreich, kommend aus ganz Europa, kennenglernt und zum Glück waren es für mich alle neue Gesichter. Das Seminar war perfekt in seinem nonformalen Bildungscharakter, inhaltlich nicht sehr anspruchsvoll, aber die Verbundenheit mit den anderen umso stärker. In einem von uns Freiwilligen geleiteten Workshop haben wir z.B. Tipps für EVSurvival gesammelt (z.B. wenn man beim Spaghetti Kochen keinen Löffel zur Hand hat, einfach einige harte Spaghetti zum Umrühren nehmen und anschließend mitkochen). Aber auch etwas sinnvollere Themen wie „Wie in Frankreich bleiben?“, Studieren, DELF/DALF, weitere Mobilitätsprogramme und das Ausfüllen des Youthpass wurden thematisiert. Natürlich wurde auch die Tradition der Seminare gewahrt, am Mittwoch Abend in einer Kneipe Karaoke zu singen. Die österreichischen Jungs, die dem Wehrdienst entgehen, sangen genauso stark ihr traditionelles Schiffhorn wie all die anderen ihre Popsongs dröhnten. Nach vier Tagen ging es dann für mich nach Toulouse, wo ich während der drei Tage meine beste Couchsurfing Erfahrung erlebte. Zumindest hat das Mädchen, bei der ich übernachtet habe, genau auf meinen aktuellen Fokus gepasst. Sie hat uns die Stadt gezeigt und wir haben bis tief in die Nacht diskutiert. Direkt am nächsten Tag habe ich mir dann das Buch gekauft, dass sie gerade erst zu Ende gelesen hat und ich unbedingt lesen sollte. Es war Sommer im Februar und ich habe mich unter die unzähligen Studenten im Park gemischt. Das Flair ist so anders, wie ein frischer Wind.
Die 13,5 Stunden Busfahrt zurück waren anstrengend. Wir haben den Bus gewählt, um nicht draufzahlen zu müssen, da die Züge unbezahlbar sind. So mussten wir in Nantes 2h30 morgens um sechs auf den Anschlussbus warten. In Gedanken schon gemütlich im Bahnhof schlafend stiegen wir aus dem Bus und befanden uns an einer einzigen Bushaltestelle inmitten eines Industriegebietes. Die nächsten Tankstellen und eine Klinik machte erst am Vormittag auf, zudem war es Sonntag und somit unmöglich, auch nur irgendein warmes Plätzchen zu betreten, geschweige denn einen Café zu trinken. Wir machten eine Runde und sahen als einzige Möglichkeit, uns auf eine Parkbank zu legen und in der Kälte und Dunkelheit zu schlafen, da die Nacht so gut wie schlaflos verlaufen war. Im letzten Moment entdecke ich dann doch einen Geldautomaten in einem gläsernen Vorraum, wie es bei Banken üblich ist. Sofort holten wir unsere Schlafsäcke heraus und ruhten auf dem Boden dieses etwas beheizten Vorraumes einer Bank. Hinzu kam, dass ich ohne Ende hustete und meine Nase anfing, zu triefen. Dank dieser Erfahrung kann ich mir nun besser vorstellen, wie es Obdachlosen ergeht, wenn man ohne Heim ist, man Hilfe benötigt, aber keiner hilft.
Als ich dann schließlich aus dem Busfenster die kleinen, immer gleichen steinigen Häuser mit den zwei Dacherhöhungen und die unendlichen Kuhweiden der Bretagne sah, habe ich realisiert, dass diese Region ein ganz anderes Land ist. In allem. In der Architektur, dem Klima, der Lebensweise, der Einstellung der Menschen, der Offenheit. Ich befinde mich wirklich am westlichsten Zipfel. Der Name der Region heißt übersetzt sogar „Ende der Welt“. Und Frankreich ist so vielfältig und somit bin ich froh, dieses facettenreiche Land erkunden zu dürfen. Mich hat das Reisefieber gepackt und meine Liste der Orte, die ich sehen möchte, wird immer länger und die mir verbleibende Zeit immer kürzer.
Nachdem ich zurückgekehrt bin, macht mir die Arbeit viel Spaß, da die Ferien vorbei sind und wieder mehr los ist. Mit meinen Kollegen unterhalte ich mich immer mehr, wir spaßen und diskutieren über Gott und die Welt. Ich habe schon längst mein Lieblingsbüro gefunden, da ich mir jeden Tag aufs Neue einen Platz suchen muss. In der Mittagspause gehe ich bei gutem Wetter (soll heißen alles außer Regen) im Wald sparzieren.
Meine WG kann ich mir nicht mehr wegdenken. Der mit Formen und Farben übersäte Putzplan schmückt nicht nur unsere Kühlschranktür, nein, er wird streng eingehalten. Als wir im September zusammen saßen, sagte die eine: „Ich mag keine Regeln. Lass uns nichts ausmachen!“ Dies war ein Schock für mich, für jemanden, der von einer Regel zur anderen gelebt hat. Jetzt teilen wir alle Ausgaben und tauschen uns über den Tag der anderen aus, da wir ja in unterschiedlichen Organisationen arbeiten. Wenn ich so in anderen Freiwilligen-WGs übernachte und die Berichte der anderen höre (komplett alleine oder zu fünft ohne eigenen Raum, geteiltes Zimmer, nicht miteinander sprechen etc.), bin ich umso dankbarer für meine eigene WG als ich ohnehin schon bin. Es sollte wohl so sein, dass ich gerade mit Ema zusammen lebe, da sie nur so vor Positivität sprüht und das auf mich abfährt, bzw. ich ebenfalls mit dem ganzen Yoga- und Meditationskram begonnen habe. Und wenn einer von uns drei mal für ein paar Tage weg ist, merkt man sofort, dass jemand fehlt.
Der Januar wollte einfach nicht zu Ende gehen. Der Februar hat mit jedem Tag an Fahrt aufgenommen. Der März steckt voller Routine, der April voller Ferien. Der Mai führt zum größten Projekt und der Juni fängt mit einem Musikfestival an und dann ist es auch schon vorbei. Mein Terminkalender platzt an manchen Stellen nur so vor Projekten. Ich versuche einfach, die mir verbleibende Zeit so gut wie möglich zu genießen.
Wie fühle ich mich nach der Halbzeit? Zunächst einmal kann ich sagen, dass ich mein oberstes Ziel meiner Zielpyramide schon erreicht habe und mich insgesamt in so vielen Bereichen einbringen kann. Ich bin eindeutig aus dem Schulfranzösisch ausgestiegen, kann mich nun stundenlang auf Französisch unterhalten. Ich habe viele Projektideen umgesetzt, einen authentischen Einblick in eine französische soziokultulle Assoziation und deren Arbeitsweise bekommen und, so hart es auch klingt, das reale Arbeitsleben kennengelernt. Natürlich habe ich mich auch selbst besser kennengelernt, ispirierende Menschen getroffen, eine Menge über die französische Kultur und der der Bretagne gelernt und mir ist klar geworden, was jeden Tag Kochen bedeutet. Eine weitere Tatsache, für die ich besonders dankbar bin: Ich bin im interkulturellem Kontext und lerne jeden Tag Neues über andere Kulturen, Sichtweisen, das Zusammenleben, Völkerverständigung. Ich bin nicht im kleinen deutschen Quadrat gefangen. Ich denke, dass die nächsten vier Monate nötig sind, um das zu beenden, was ich begonnen habe, seien es Projekte, das Entdecken Frankreichs oder meine persönliche Entwicklung. Die Zukunft und die Zeit danach rückt immer näher und ich bin dabei, mich mit viel Zuversicht dafür zu wappnen.