Globale Armut und mögliche Hilfe
Oder: Wie in der Geschichte koloniale Machtstrukturen nachhaltig etabliert wurden, wie sie die internationale Gesellschaft bis heute beeinflussen und warum Hilfe vor allem unser Bewusstsein herausfordert.
Der Vergleich der Lebensqualitäten in westlichen, europäischen Ländern mit armen afrikanischen, manchen südamerikanischen und asiatischen Ländern weist extreme Kontraste auf. In einer allgemeinen gesellschaftlichen Debatte spannt sich hier ein Spannungsfeld internationalen Ausmaßes: Sind privilegierte Gesellschaftsschichten zur Hilfe in armen Regionen der Welt verpflichtet, sollten sie verpflichtet werden oder sollte ein individueller Spielraum zur persönlichen Entscheidung gewährleistet bleiben?
Die deutsche Bevölkerung lebt in einer vom Überfluss geprägten Wohlstandsgesellschaft. Die Hygienestandards werden durch strenge Kontrollen erhalten, die medizinische Versorgung ist größtenteils gewährleistet und durch die Schulpflicht ist eine „Grundbildung“ garantiert. Unsere „Normalität“ ist Luxus in vielen armen Regionen und Entwicklungsländern dieser Welt. Ein Großteil Afrikas, Teile Lateinamerikas und Asiens sind, unter anderem durch die ausbeuterischen Kolonialherrschaften westlicher Länder, sowohl gesellschaftlich als auch ökonomisch und politisch unterentwickelt. Durch die fehlende Etablierung von Infrastrukturen, Bildung und Politik, wie sie unserer westlichen Definition einer „Zivilisation“ entspräche, wurde eine gleichrangige Entwicklung viele dieser Regionen durch die Ausbeutung von Ressourcen und die Überordnung der Kolonialmächte durch klare Hierarchien früh unterbunden. Ressourcen, Machtverhältnisse und gesellschaftliche Normen wurden ungleich aufgeteilt und die fortbestehende Spaltung zeugt von der Nachhaltigkeit, die die Handlungen der Kolonisten mit sich führten. Unsere Lebensstandards sind nicht annähernd mit den Standards vieler afrikanischer Länder zu vergleichen: Die Lebenserwartung weist eine durchschnittliche Diskrepanz von bis zu 30 Jahren zwischen Europa und großen Teilen Afrikas auf. Der Tod tausender Menschen, und vor allem von Kindern, aufgrund von Krankheiten, Hungersnöten oder gesellschaftlichen Problemen wie Bürgerkriege und Terror alarmieren. Allein in den Jahren 1990 bis 2006 starben über 300 Millionen Menschen an den Folgen extremer Armut.
Aktive Hilfe für arme Regionen hält sich in Grenzen. Die fehlende Konfrontation durch die räumliche Distanz führt möglicherweise zur Unterlassung von Hilfe, da die „Informationsfluten“ durch konstante mediale Aktivitäten möglicherweise zur Überforderung und zur Rückbildung einer Sensibilisierung für emotionale und soziale Themen führen. Diese Annahme ist zwar größtenteils hypothetisch, lässt sich aber aus der egoistischen Einstellung ableiten, die zu beobachten ist, wenn Menschen in unangenehmen Situationen einfach „wegsehen“, sobald sie nicht unmittelbar vor der eigenen Haustür stattfindet. Ist dieses Ausweichen gerechtfertigt?
Moralisch scheinen wir zur Hilfe verpflichtet. Christen berufen sich beispielsweise auf einen Vers in der Bibel, in dem gesagt wird „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Diese „Nächstenliebe“ gewährleistet die bedingungslose Hilfe und Zuneigung aller Notleidenden, solange alle Menschen bedingungslos danach handelten. Dieser Grundsatz ähnelt im Kern der „Goldenen Regel“, die in der praktischen Ethik angewandt wird: „Behandle andere so, wie du auch von ihnen behandelt werden willst.“
Der Philosoph Hans Jonas formulierte in den 1970ern das „Prinzip der Verantwortung“, der sich jede progressive Gesellschaft bewusst sein muss. Er bezog sich unter anderem auf den technischen Fortschritt, bei dem die Konsequenzen für die gesamte globale Gesellschaft und deren nachfolgende Generationen menschlich vertretbar sein müsse. Handeln, das fatale Folgen, wie die Ausbeutung ganzer Kontinente oder die Zerstörung der Planeten zur Folge habe, sei beispielsweise unverantwortlich. Auffallend ist, dass genau diese Probleme durch die Ausbeutung und Kolonialisierung, angeführt durch die neuzeitlichen Westmächte, auftraten und wir noch Jahrhunderte später mit den Folgen zu kämpfen haben. Versklavung, Ausbeutung, Klimawandel, Rassismus, Terror, Bürgerkriege und extreme Armut sind nur Bruchteile der gesellschaftlichen und demografischen Missstände in vielen Entwicklungsländern. Sind Hilfeleistungen demnach lediglich eine fällige Wiedergutmachung oder eine „barmherzige“ Geste?
Der Überfluss, mit dem wir leben, scheint die Antwort nahezu offensichtlich zu machen: Moralisch korrekt wäre es, alles, was wir „zu viel“ haben einfach abzugeben an die Menschen, die deutlich zu wenig haben. Was wir unterlassen, trägt zur Vergrößerung des Leids bei. Der Ethiker und Philosoph Peter Singer vertritt diese Ansicht radikal und erklärt das Unterlassen von Hilfeleistungen sowie das „Wegsehen“ als unmoralisch.
Auch Gerhard Kruip, Professor für Sozialehtik, befasst sich mit Fragen zur globalen Gerechtigkeit. Er legt den Begriff „Hilfe“ auf zwei Ebenen an. Freiwillige Hilfe grenze an freiwillige Wohltätigkeit, solange der Helfende das Problem nicht mitverursacht habe. Dafür erhalte man Anerkennung und Dank, die Handlung wäre „barmherzig“. Für allgemeine gesellschaftliche Hilfe sollten allerdings strukturelle und organisierte Wege gefunden werden, für die es keine Anerkennung geben dürfe. Am effektivsten sei hier eine Kombination aus beidem – individuellem Helfen sowie struktureller Reform.
Ist es heutzutage vor dem Hintergrund der imperialistischen Kolonialgeschichte wirklich „gnädig“ oder „barmherzig“ menschliches Leben über materiellen Luxus zu priorisieren?
Auch wenn sich die Hilfe gnädig anfühlen mag, ist sie viel mehr eine nötige Entschädigung der Missstände für die Handlungen der früheren Kolonialmächte, die unsere Welt bis heute „geformt“ und Machtstrukturen etabliert haben. Problematisch ist jedoch, dass sich viele Menschen nicht für die geschichtlichen „Grundsteine“ und ihre Auswirkungen interessieren. Die strukturelle Ausbeutung begann mit den Kolonien und sie dauert an, wir wollen sie bloß nicht wahrhaben. Wir wollen nicht sehen, dass unser Wohlstand auf den unmenschlichen Lebensbedingungen anderer Menschen beruhen, da wir ihnen alles genommen haben. Unsere Hilfeleistung ist moralische gesehen das mindeste, was wir tun können. Nur sollten wir uns nicht als „barmherzige Samariter“ sehen, wie es ein Gleichnis in der Bibel beschreiben würde. Sollten wir uns mit falscher Wohltätigkeit brüsten, würde das die moralische Wirkung revidieren, auch wenn sie materiell helfen würde. Der Begriff „white supremacy“ kann hier nicht nur auf Rassismus, sondern auch auf die materielle Spaltung und die unterschiedlichen Lebensstandards bezogen werden. Unsere Hilfe ist nötig, allerdings müssen wir dafür den eigenen Egoismus überwinden und den Mut aufbringen, uns nicht als übergeordnete, gnädiger Retter zu sehen. Trotz der extremen Armut scheinen arme Menschen weniger auf unsere materielle Hilfe angewiesen zu sein, als wir, die auf ihre Gnade und Vergebung für die konstante Ausbeutung seit der Kolonialisierung hoffen müssen.