Gleich, aber doch anders
Eine Reflexion über die bereichernde Arbeit mit den geistig behinderten Menschen.
Der Montagmorgen. Der Wecker klingelt und reißt einen aus der Traumwelt aus. Dieser von vielen verhasste Tag beendet die Wochenend- Idylle und erinnert daran, dass die neue Woche gerade vor der Tür steht. Gern oder ungern steht man nun endlich auf und macht sich an die Arbeit. Die Frage lautet nur, was für eine Arbeit? Für viele ist das eine Arbeit im Büro, für andere im Krankenhaus oder als Busfahrer. Die Beispiele kann man endlos vermehren. Für mich ist das aber keine normale Montagsarbeit. Der Beginn einer neuen Woche bedeutet für mich persönlich immer ein paar Stunden Arbeit, abwechselnd in zwei Organisationen, mit geistig behinderten Menschen. Was dahinter steckt, ist eine riesengroße Bereicherung, die ich als EVS- Freiwillige jeden Montag immer wieder aufs Neue erleben darf.
Die Behinderten sind unter uns. Man begegnet relativ oft Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung und das wundert auch nicht mehr, wenn man eine am Rollstuhl gefesselte oder an Down-Syndrom erkrankte Person irgendwo sieht. Auch in den Medien ruft man zur Gleichheit und Toleranz auf. Aber ist das vielleicht deswegen so, weil viele keine direkte Verbindung zu den Behinderten haben? Ist es vielleicht einfacher zur Akzeptanz aufzufordern ohne in den persönlichen Kontakt mit diesen Menschen zu treten? Meine Meinung zu diesem Thema hat sich stark während der ersten Monate meiner Freiwilligenarbeit in Tschechien geändert. Vor dem EVS habe ich natürlich auch die Berücksichtigung der Behinderten in der Gesellschaft postuliert, aber ihr richtiges Antlitz habe ich vor kurzem durch meine Arbeit erfahren. Und diese Erfahrung würde ich nie gegen etwas tauschen.
Der Beginn war aber gar nicht so brillant. Man sagt, aller Anfang ist schwer, aber dass es so schwer sein wird, habe ich mir niemals vorstellen können. Im September, als ich das erste Mal zu dieser Arbeit gegangen bin, habe ich einen Schock erlebt. Ganz gewiss habe ich mir schon Gedanken darüber gemacht, dass die geistig behinderten Menschen sich anders benehmen oder über Themen sprechen, die für eine „normale” Person nicht unbedingt verständlich sind. Aber damals habe ich mich total fehl am Platz gefühlt, wie in einer anderen Welt. Eine Person redete mit sich selbst, die andere war von Geburt an stumm, noch jemand saß still im Sessel und blickte scheu und misstrauisch auf mich. Der erste Gedanke war: O mein Gott, ich schaffe es doch nicht hier ein ganzes Jahr zu arbeiten. Jedoch hat mich die innere Stimme ständig aufgemuntert, nicht aufzugeben und immer wieder von Anfang an jeden Montag zu versuchen, diesen Menschen nahe zu kommen und sie ein bisschen zu verstehen.
Und wie sieht das nun bei mir aus? Ich ziehe unglaublich viel Energie und Freude aus dieser Arbeit. Wir basteln viele kreative Dinge zusammen, singen, feiern die Geburtstage der Klienten, erzählen über die Geschehnisse am Wochenende oder haben eine Hundetherapie. Jeder Montag bestärkt mich in der Überzeugung, dass diese Menschen so unfassbar wichtig und unersetzlich in der Gesellschaft sind. Sie zeigen mir, wie man die Kleinigkeiten des Alltags genießt und hoch schätzt. Die prosaischen Dinge wie z.B. ein guter Mittag am Sonntag, ein Spaziergang im Schnee oder ein leckerer Kaffee mit anderen Klienten, sorgen für ein Gesprächsthema und erfreuen die Herzen dieser Menschen. Ich lerne ständig von ihnen, was im Leben richtig wichtig ist. Obwohl wir uns ganz oft wegen der Sprachbarriere verbal nicht verständigen können, verstehen wir uns gut. Manchmal reicht ein freundlicher Blick oder ein Handdruck. Diese Gesten drücken mehr als tausend Worte aus. Georg Rimann, ein Schweizer Journalist, hat gesagt: „Behinderung ruft nicht nach Mitleid, Behinderte brauchen nicht Überbetreuung und schon gar nicht fürsorgliche Bevormundung. Was ihnen Not tut, ist partnerschaftliche Anerkennung als vollwertige Menschen, Motivation zur Selbständigkeit und Hilfe (nur) dort, wo es anders nicht geht.“ Ich versuche sie wie Partner zu behandeln und hoffe, dass ich noch viel von diesen Menschen lerne und viele glückliche Momente mit ihnen erlebe. Ich bin schwer davon überzeugt, dass ich mehr von der Zeit mit den geistig behinderten Menschen profitiere als sie. Und falls der Montag schwer ist, habe ich immer eine Dose Motivation und Optimismus zum Handeln parat :)