Geisterstadt
Massimo lebt mir seiner Familie in L'Aquila, der Stadt, die durch ein starkes Erdbeben im April 2009 zerstört wurde. Noch immer ist der Schaden überall zu sehen. Eine Reportage über die aktuellen Zustände im einstigen Herzen der Abruzzen.
Es ist ruhig in L’Aquila. Über die Stadt des Adlers hat sich die Dunkelheit wie ein mächtiger Flügel gelegt, der jedes Geräusch zum Schweigen bringt. Schweigen, Stille und Einsamkeit. Vor dem Erdbeben kam Massimo gerne hierher, auf die Piazza vor dem Dom Santi Massimo e Giorgio, auf der Händler der Region frisches Gemüse und Obst anboten. Ein Ort an dem das Leben in seinen routinierten Bahnen verlief.
Als Massimo über seinen Lieblingsort spricht, schauen seine Augen starr nach vorne, so als ob sie sich kaum noch an das erinnern, was mal hier war. Er erzählt mit fester Stimme, versucht sachlich zu bleiben, keine Gefühle zuzulassen. Er spricht von der Zeit davor, als er noch gerne zum Dom gekommen ist. Davor, vor dem 29. April 2009, vor dem Chaos, der Ungewissheit und der Zerstörung, vor dem Erdbeben, das die Einwohner von L’Aquila nur „il terremoto“ (das Erdbeben) nennen.
In der Nacht vom 29. April 2009, kurz vor Ostern ist es, bebt die Erde ganz in der Nähe der Provinzhauptstadt L’Aquila in Mittelitalien. Das geschieht hier nicht zum ersten Mal, die Stadt hat in ihrer Geschichte schon vieler solcher Katastrophen standhalten müssen. Doch die Bewohner trifft das Erdbeben trotzdem völlig unerwartet. Auch Massimo hatte sich auf die Bekanntmachungen der Protezione Civile verlassen, die trotz viermonatigen leichten Vorbeben keine Gefahr für eine größere Erderschütterung vorhersagten. Seine Familie hatte ruhig geschlafen, als um 3.32 Uhr die Wände wackeln und Menschen verzweifelt nach draußen laufen. 308 Menschen verlieren in den Trümmern ihr Leben. Das historische Zentrum der Stadt gleicht einem Kriegsschauplatz. „Mit dem Ende des Bebens hat die Evakuierung angefangen. Mehr als ein Jahr ohne Haus, ohne einen Ort wo man hingehört. Das war die schwierigste Zeit“, erinnert sich Massimo.
Jetzt steht er in seinem Rollstuhl hier auf der Piazza. Massimo, den blauen Anorak bis oben hin geschlossen möchte nicht über seine Behinderung sprechen, die er seit seiner Kindheit hat. Er schaut nur nach vorne. Die Front des Doms, mit seiner rechteckigen Form typisch für die Abruzzen, hat den Erschütterungen stand gehalten. Trotzdem ist er seit 2009 für Besucher gesperrt. Gefahr durch herabfallende Trümmerteile im Inneren der Kathedrale.
Hier drinnen befinden sich die durch ein eisernes Stützgerüst gesicherten Mauern mit bunten Fresken und Wandgemälden. Die Halterungen durchbohren die Kunstwerke wie Fleischspieße. Braun-weiße Marmorsäulen werden von hässlichen Rissen durchbrochen. Auf dem Boden im Altarraum ist Moos durch den zerbrochenen Marmorboden gewuchert und klebt nun wie grüner Leim an genau den Stellen, an denen die Schäden nicht behoben wurden. Die Kuppel der 700 Jahre alten Kirche konnte der Erschütterung nicht standhalten und gibt nun den Blick auf einen dunklen Wolkenzug am Himmel frei. Massimo schweigt.
Vom Dom aus gehen wir zur Fontana delle 99 cannelle. Einer der wichtigsten Bauten L’Aquilas ist dieser Brunnen der 99 Wasserhähne, dessen Wasser aus den in Stein gemeißelten Wappen der Gründungsstädte in ein U-förmiges Becken fließt. Der Weg ist nicht weit, er führt uns vorbei an zerbrochenen Schaufenstern, Bauzäunen und massiven Türschlössern, mit denen die Häuser vor Vandalismus und unerwünschten Besuchern geschützt werden. Massimo nimmt die Schandflecke der Zerstörung gar nicht wahr. Er ist überzeugt von der Schönheit seiner Stadt mit den vielen Kirchen und der barocken Architektur, die jetzt zur Geisterstadt verkommt.
Am 16. Dezember 2010 wurde dieses Symbol der Stadt voll restauriert als erstes Monument des Stadtzentrums in einer feierlichen Zeremonie wieder freigegeben. Doch auch wenn hier das Wasser jetzt wieder sprudelt, so bleibt die Restaurierung des Brunnens nur ein Zeichen des guten Willens beim Wiederaufbau. Es mangelt an Geld. Die Restauration der engstehenden historischen Gebäude im Stadtkern ist oftmals aufwendig.
Heute, fünf Jahre nach dem Erdbeben, ist kaum etwas passiert, trotz der anfänglich positiven Stimmung, die der damalige Ministerpräsident Berlusconi bei seinen mehr als 30 Besuchen hier unter den Bewohnern der Stadt verbreitet hat. Als Medienprofi nutzte er die internationale Aufmerksamkeit um den G8 Gipfel, den er 2009 kurzfristig nach L’Aquila verlegte, um Spenden zu sammeln und sich selbst ins rechte Licht zu rücken. Doch immer noch liegt die Stadt wie im Dunkeln. Die Hilfe, die an einigen Stellen angekommen ist, reicht noch lange nicht aus, um die gesamte Innenstadt aufzubauen. “Nur wenige Gebäude mit historischem Wert befinden sich im Wiederaufbau, nur ungefähr 20 % aller Bauten überhaupt im Stadtkern”, sagt Massimo.
Vor einem der wenigen vollrestauriertem Gebäude wird er langsamer. Viele Meter über unseren Köpfen steht in goldenen Buchstaben „Banca D’Italia“ an der Hauswand geschrieben. Seit einigen Jahren engagiert sich Massimo in der lokalen Politik. Die immerwährende Hoffnung etwas zu verbessern, hat ihn dazu gebracht, sich aktiv am Wiederaufbau zu beteiligen und sich eben nicht das alles nehmen zu lassen, was das Erdbeben schon zerstört hat. Denn er hat das Gefühl, dass hier etwas schief läuft in seiner Stadt. Der Wiederaufbau stockt. Was sich hier im historischen Zentrum an deutlichsten zeigt, die Ohnmacht gegen die Zerstörung, die Ratlosigkeit im Wiederaufbau, das ist auch der Eindruck, den er von der lokalen und nationalen Politik hat.
Nicht alle Straßen L’Aquilas sind frei zugänglich. Ein Teil der Stadt ist immer noch zona rossa, also geschlossen und vom Militär bewacht. Auf Grund von Sicherheitsvorkehrungen, mangelnder Finanzierung und bürokratischen Hürden geht beim Wiederaufbau des historischen Zentrums kaum etwas voran. „Ich komme oft hier ins Zentrum, weil ich die Stadt nicht sterben lassen möchte, ich will kein neues Pompeji hier. Ich möchte meinem Sohn eine schöne Stadt hinterlassen. Wie die, die ich erlebt habe“, sagt Massimo überzeugt. L’Aquila soll keine Geisterstadt werden.
Neben dem materiellen Schaden hat das Erdbeben nämlich vor allem eines hinterlassen: Einsamkeit. Sie überzieht das unbewohnte und leblose Stadtzentrum bis hin zu den New Town, den Häusern, die in der Peripherie L’Aquilas hochgezogen wurden und in denen einige der obdachlosen Familien wieder eine Unterkunft gefunden haben. Familien, die vielleicht einen Nachbarn oder Bruder in der Nacht des Erdbebens verloren haben. „Nach dem materiellen Erdbeben erreichte uns auch das soziale Erdbeben. Die Bewohner haben alle Anlaufpunkte verloren, das soziale Netz ist einfach ausgefallen. Heute herrschen hier Einsamkeit und Depression“, sagt Massimo. Was ist diese Stadt noch ohne sein Zentrum, ohne sein soziales Netz?
Das Leben wurde der Stadt ausgesaugt. Die durch das Erdbeben obdachlos gewordenen Bewohner der Stadt wurden in anderen Gemeinden an der Küste untergebracht. Neue Häuser wurden nur in der Peripherie aufgebaut. Lebende Seelen haben das Stadtzentrum verlassen, wie der Herzschlag einen sterbenden Patienten. Um ihn am Leben zu halten braucht es mehr als einen schleppenden Wiederaufbau, der nur die Knochen richten kann. Es braucht Menschen und Leben, um diese Stadt zu retten.
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