Gedanken zu Frühlingsbeginn...
...oder: Ein Brief, der mehr als fünf Monate unterwegs war und doch genau rechtzeitig ankam. Und in diesen fünf Monaten hat sich für Lockenjule in Moldawien einiges verändert.
Vor nun bald sechs Monaten saß ich auf einem großen Stein und kaute auf einem geliehenen Kuli. Vor mir ein Stück Papier, in mir große Verunsicherung. Um mich herum etwa dreißig andere Freiwillige, ebenfalls auf Steinen kauernd oder aber auf dem Rasen liegend oder aber zwischen Sträuchern, Felsen und Wasserfall herumkletternd. Alle hatten wir denselben zweifelnden Gesichtsausdruck, alle versuchten wir unsere schwirrenden Gedanken der Ungewissheit, der Erwartung, der Freude und der Angst für einzufangen und auf den leeren Zetteln in unseren Händen festzuhalten. Dies war unsere Aufgabe. Einen Brief an uns selbst zu verfassen, den wir zum Mid-Term-Training (Bergfest-Seminar) wiederbekommen sollten.
Was aber schreibt man sich selbst, wenn man nicht mal so richtig definieren kann, wie es einem gerade geht; geschweige denn wissen kann, wie es einem gehen wird? Auch das leise Plätschern des Wasserfalls in der kleinen versteckten Oase, in der wir saßen, vermochte die Gedanken nicht zu ordnen. Auch die leise raschelnden Blätter des grünen Dickichts, durch das wir gemeinsam zu jenem versteckten Ort gewandert waren, und die warmen Sandsteinfelsen um uns herum vermochten unsere Gedanken nicht einzufangen oder gar zu ordnen. Dabei wusste man doch eigentlich, theoretisch schon alles. Unzählige Leute hatten einem vor der Anreise in die Fremde vorgebetet, dass man sich verändern wird, dass am Anfang immer alles ganz ungewohnt ist, dass man Heimweh haben wird, dass man einen Kulturschock bekommen kann, dass man so viel neues kennen lernt, dass, dass, dass…
Ich kann Euch sagen: 'dass', was man mir vorher alles mit auf den Weg gab, stimmte eigentlich alles, und trotzdem ändert ‚dass‘ nichts an der Tatsache, 'dass' es vollkommen egal ist, ob man 'dass' alles vorher gesagt bekommt oder nicht. Denn selbst wenn doch 'dass' alles schon vorher weiß, sich darauf einstellen kann, man es erwartet, erlebt man 'dass' trotzdem ganz für sich und nicht ganz allgemein, sondern ganz besonders. Ich kann 'dass' deshalb sagen, weil ich vor gut einer Woche jenen verzweifelten Brief zurückbekommen habe. Ich hatte ihn längst vergessen.
Doch bevor es zum Erhalt des Briefes kam, ereigneten sich noch allerhand interessante Kleinigkeiten. In den letzten ca. 160 Tagen lernte ich: mich selbst kennen, schätzen und einzuschätzen. Ohne meine Eltern um mich herum zu leben und ihnen auf neue Weise zu begegnen. Dass sich viele Leute erst dann für einen interessieren, wenn man ihnen Gesprächsstoff für Unterhaltungen mit anderen bietet. Dass man am besten ganz weit weg geht, um jemanden nach Jahren der Parallelexistenz wieder näher zu kommen. Wie sich wahre Freundschaft zeigt. Dass mein Berufswunsch der richtige ist. Dass es in Moldawien nicht nur mich als einzige Freiwillige gibt, sondern noch viele andere aus vielen anderen Ländern. Dass man in Belgien an Ostern "Bok, bok,bok mein Hühnchen, bok, bok, bok mein Hahn singt" (und derlei viele mir fremde Traditionen zu diversen Anlässen). Dass der jahrelange Englischunterricht doch zumindest so viel gebracht hat, dass ich mich mit allen Freiwilligen flüssig und tiefgründig schlechte Witze machen kann. Erste Grundkenntnisse in Rumänisch, Russisch und nebenher noch Altgriechisch; deren Erlernen nebenher mein Englisch verbessert hat, da ich die Sprachen auf Englisch lerne. Das Russland seinen Bevölkerungsdunstkreis sehr US-amerikanisch unterhält (man schaue nur mal eine russische Sitcom). Worauf ich Wert lege und worauf ich gut verzichten kann. Muße. Geduld. Kochen. Vieles mehr. Und, dass jeder Tag hier ein Geschenk an mich selbst ist.
Das Lernen und das Nutzen des Gelernten begannen, vollführten und kontinuieren sich also erfolgreich. Was mehr kann ich verlangen von so einem Jahr in einem Land, das geschätzte vier Fünftel der Deutschen nicht mal vom Namen her kennt und rein von der Lage in Osteuropa nicht besuchen würde? Was mehr kann ich verlangen, als eine Arbeit mit Kindern am Nachmittag, bei der ich genau das mache, was ich am besten kann und am liebsten tue: Lehren, tanzen, basteln und kuscheln? Warum sollte ich mich über Nichtigkeiten wie wenig Essensgeld, Gestank in den Straßen, oft kein warmes Wasser, Erfahrungen mit strenger Geschlechter- und Generationstrennung, regelmäßigen Durchfall oder unzuverlässige Postzustellung beschweren? Das ist alles vergänglich, es ist ja nicht mein ganzes Leben, es ist nur eine kurzweilige Erfahrung. Aber alles was man Erfahrung nennt, kann einem nicht mehr genommen werden. Und jede Erfahrung, die einen selbst verändert, weiterentwickelt und die man gar noch weitergeben kann ist ein voller Erfolg.
Man kann das gut mit einem Apfelbaum vergleichen: Jede Erfahrung eine Knospe, jedes bestäubende Insekt ein Nachdenken über die Erfahrung. Daraus entstanden ein reifer Apfel, eine nachhaltig verändernde Erkenntnis. Manche Äpfel reifen schon madig und krank, fallen ab und werden dann von jemandem aufgelesen, der dann nach dem Grund des Erkrankens sucht. So, wie wir schlechte Erfahrungen jemandem mitteilen, der selbst daraus lernt und uns gleichzeitig hilft, daraus zu lernen und sie dann zu vergessen. Jeder reife und gute Apfel hingegen wird von jemandem freudig gepflückt und gegessen - jede, einem anderen zum richtigen Zeitpunkt dargebotene Erkenntnis ist eine Bereicherung für diesen. Ich mag Äpfel gern, ich versuche jeden Tag mindestens einen zu essen.