Freiwilligendienst in Zeiten von Corona
Wie beeinflusst das Virus unseren Freiwilligendienst? Wie können wir Sicherheit und die Werte des European Solidarity Corps miteinander vereinen? Wie können wir helfen? Die Sicht zweier Freiwilligen aus Estland.
Im Spätsommer 2019, als die breite Masse „Corona“ mit nicht mehr als einer mexikanischen Biermarke verband, sind wir voller Tatendrang und Vorfreude nach Estland aufgebrochen. Acht Monate später steht Europa wohl vor der größten Herausforderung seiner Geschichte – und mittendrin wir beiden Freiwilligen des European Solidarity Corps.
In der estnischen Kleinstadt Tapa, unserem neuen Wohnort, mit seinen 5000 Einwohnern scheint das Coronavirus noch weit weg. Estlands Hauptstadt Tallinn, aus der täglich neue Infektionen mit dem Virus gemeldet werden, ist knapp 100km entfernt. Die Insel Saaremaa, welche sich als Epizentrum Estlands entpuppte, sogar noch weiter. Knapp 1800 Infektionen und rund 60 Todesfälle hat der baltische Staat bisher zu beklagen. Wirkt auf den ersten Blick, mit den sechsstelligen Infektionszahlen aus Deutschland oder Italien im Hinterkopf, nach wenig. Bedenkt man jedoch, dass Estland insgesamt nur 1,3 Millionen Einwohner zählt, wird einem das Ausmaß erst richtig bewusst. Derzeit sind in Tapa noch keine Infektionen bekannt und so bleiben für uns das Desinfektionsmittel im Supermarkt, die übergangsweise Schließung der lokalen Pubs oder das rote Absperrband vor den Spielplätzen die einzigen Indizien für die außergewöhnliche Situation. Und, nicht zu vergessen, die sechs Wochen ohne reguläre Arbeit.
Wir sind Freiwillige des European Solidarity Corps und seit September beziehungsweise Oktober in Estland tätig. Wir arbeiten gemeinsam in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung, in welcher wir normalerweise den Alltag unserer Klienten durch Spaziergänge, Basteln, Backen und eine wöchentliche Disko zu bereichern versuchen. Covid-19 machte uns und den rund 100 anderen Freiwilligen des European Solidarity Corps in Estlands nun jedoch einen Strich durch die Rechnung. Arbeiten? Häufig nicht mehr möglich, sind doch die meisten von uns in sozialen Einrichtungen wie Kindergärten, Jugendzentren oder Wohnheimen für Menschen mit Behinderung tätig. Reisen und das Land mit seiner fremden Kultur erkunden? Undenkbar. Dem European Solidarity Corps trotzdem gerecht werden? Eine Sache des Möglichen!
Der European Solidarity Corps ist ein von der EU gefördertes Programm mit dem Fokus auf Freiwilligenarbeit, das es jungen Menschen zwischen 18 und 30 Jahren ermöglicht, sich innerhalb der EU in gemeinnützigen Projekten zu engagieren. Besonderer Wert wird dabei auf europäische Grundwerte wie sozialer Zusammenhalt, Gleichberechtigung und Demokratie gelegt. Die jungen Menschen sollen sich für ein vereintes, soziales und solidarisches Europa einsetzen. Die treibende Vision des European Solidarity Corps ist es, Menschen unterschiedlicher Kulturen zusammenzubringen, vermeintlich schwächere Mitbürger*innen zu unterstützen und gemeinsam gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen.
Wir haben diese Ziele in den vergangenen acht Monaten überwiegend mit unserer Arbeit in Verbindung gebracht. Sich für Menschen mit Behinderung einsetzen, ihr Leben lebenswert gestalten, ihnen ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Doch zeigt sich nun, sechs Wochen, nachdem wir aus Sicherheitsgründen nicht mit den Klienten, die zur Risikogruppe gehören arbeiten durften, eine sehr interessante Entwicklung unter den Freiwilligen: Es wird nicht einfach nichts gemacht. Statt die freie Zeit nur mit Netflix zu vergeuden oder sich gar vermehrt mit Freunde zu treffen, was das Infektionsrisiko noch stark erhöhen würde, werden Alternativen gefunden, um trotzdem helfen zu können. Unterstützung in der Food-Bank, Brieffreundschaften mit Klienten aus der Arbeit oder die Erstellung von kleinen Filmen und Videos zur Erheiterung anderer Freiwilliger, sind nur ein Auszug von all den Ideen, die in den letzten Wochen entstanden sind. Auch die von der estnischen National Agency angebotenen Webinare, welche Möglichkeit zum Austausch aber auch einfach nur Zeitvertreib darstellen sollen, werden gut angenommen. Nicht nur Freiwillige aus Estland, sondern auch estnische Freiwillige, die sich gerade im Ausland befinden, dürfen daran teilnehmen, um Fragen rund um das Virus zu klären oder um einfach nur die nervenaufreibende Situation für einige Stunden vergessen zu können.
Es werden kreative Lösungen gefunden, mit dieser außergewöhnlichen Gegebenheit, die keiner während seines Freiwilligendienstes erwartet hatte, umzugehen, die Grundwerte des European Solidarity Corps aber trotzdem beizubehalten und keine unnötige Gefahr einzugehen. Es besteht ein Zusammenhalt, unabhängig von Kultur oder Herkunft. Freiwillige aller Nationen und estnische Einheimische arbeiten zusammen und entwickeln gemeinsam Ideen. Der Solidaritätsgedanke als Team mehr zu erreichen und stärker zu sein als jeder für sich gilt als Leitsatz. Und so zeigt sich in einer Krise, in der viele schon an der Europäischen Union zu zweifeln begonnen haben, auch eine Chance. Eine Chance sich gerade jetzt für ein gemeinsames und solidarisches Europa zu engagieren.
Wir sind in dem kleinen Tapa mit unseren Mitteln vielleicht begrenzt, versuchen aber dennoch unser Bestes. So haben wir beispielsweise Dankesbriefe an systemrelevante Einrichtungen geschickt, aufmunternde Bilder in dem Treppenhaus unseres Wohnhauses aufgehangen, Videos für unsere Klienten erstellt und bei der Gemeinde Einkaufshilfe für ältere Menschen zugesagt. Ob mit dem European Solidarity Corps oder nicht, Möglichkeiten zum Aushelfen bieten sich uns allen.
Quellen:
https://europa.eu/youth/solidarity_en
https://koroonakaart.ee/et