FRANKREICH | „Du kannst in anderen nur entzünden, was in dir selbst brennt.“
Im August 2003 schrieb arcobaleno über ihre Erfahrungen als Freiwillige in Roubaix, Frankreich, von brennenden Autos und Straßenkämpfen. Ein Szenario, das gerade aktuell in den Medien für Zündstoff sorgt. Aber sie lernte auch eine andere Seite kennen: Einladungen zu köstlichem Essen oder das selbstverständliche Miteinander arabischer und französischer Kids.
Nach einem Jahr als Europäischer Freiwilliger (EFD) schwirren jedem Freiwilligen unzählige Gedanken im Kopf herum, wenn man gefragt wird, wie es denn gewesen sei... Unmöglich aus den vielen Eindrücken, die man während der Zeit im Ausland gewonnen hat, einen vernünftigen Satz zu basteln, der über ein „Es war sehr bereichernd und interessant“ hinausgeht.
Ich selbst kann über meinen Aufenthalt in Frankreich nicht einmal behaupten: „Es war voll gut“, denn es gab Phasen, da wäre ich am liebsten wieder nach Hause gefahren. In diesen Momenten dachte ich: „So habe ich mir den EFD aber nicht vorgestellt“.
Dafür gab es andere Ereignisse, die das Jahr zu etwas Unvergesslichem für mich gemacht haben. Oder Dinge, die ich zunächst als negativ empfand, stellten sich später als wichtige Erfahrung heraus.
Pech hatte ich mit der Wohnung und der Gegend, in die ich kam. Ich musste zweimal umziehen und war in jedem Viertel dann fast die einzige „Weiße“. Der Rest, das waren Araber aus Algerien, Tunesien und Marokko, so dass ich mich manchmal fragte, wo denn eigentlich die ganzen Franzosen stecken?
Erst später wurde mir klar, dass ich hier was Typisches für Frankreich erlebte. „Multikulti“ ist dort aufgrund der ehemaligen Kolonien viel verbreiteter als beispielsweise in Deutschland.
Leider bringt das oft Probleme mit sich. In Roubaix, wo mein Projekt war, beträgt die Arbeitslosenquote 17 Prozent. Die meisten Einwohner leben in alten, schäbigen Häusern. Die Kinder spielen auf den verschmutzen Gehsteigen davor. Es finden regelmäßig an Straßenecken Auseinandersetzungen statt, die schnell brutal werden.
Ich selbst wurde einmal von einer Bande angegriffen und sah zwei Mal Autos am Straßenrand brennen. Außerdem musste ich aufpassen als Mädchen nicht nach 9 Uhr alleine Metro zu fahren und verriegelte abends vorsichtshalber meine Haustür.
Nicht selten blickte ich misstrauisch um mich und ärgerte mich, dass ich dadurch Chancen verpasste, die Menschen anzulächeln. War ich doch von klein auf gewohnt, dass einem niemand grundlos Böses will und dachte wehmütig an mein Elternhaus, das geborgen in einem kleinen putzigen Dorf steht, umgeben von Natur und hübschen Einfamilienhäusern.
In Roubaix dagegen gibt es mehr Hundedreck als Bäume und die verschmutzen, baufälligen Reihenhäusern gleichen sich haargenau. Ich hätte nie sagen können, welches ich nun eigentlich am Hässlichsten finde. All das machte mich manchmal traurig und hilflos.
Einen Spruch, der mich jedoch während meinem EFD begleitete, war: „Du kannst in anderen nur entzünden, was in dir selbst brennt.“ Also versuchte ich nach einer Weile, die Leute wieder anzulachen, die um mich waren. Und ich beschloss, mich von meinen Vorurteilen zu lösen und mich auf die arabische Kultur mehr einzulassen.
Während des Ramadans wurde ich beispielsweise nach Sonnenuntergang im Büro meines Projektes immer wieder eingeladen, die eine oder andere kulinarische Köstlichkeit aus dem Orient zu probieren. Mein absoluter Favorit ist übrigens der leckere Couscous, den ich einmal auf einem muslimischen Leichenschmaus mitaß, um wie die anderen Gäste dafür zu sorgen, dass die Verstorbene ins Paradies kommt.
Auch unterhielt ich mich oft mit meiner Tutorin darüber, dass ihre Eltern aus Algerien stammen, sie aber in Frankreich aufgewachsen ist. Kann man es sich vorstellen, dass ihre Mutter und sie sich so unterhalten, dass die eine nur Französisch und die andere Arabisch spricht? Keine kann die andere Sprache sprechen, aber sie verstehen sich dennoch.
Manchmal ist es für die Einwanderer schwer zu sagen, ob sie eine Heimat haben, zwei oder eigentlich keine so richtig. Ihre Kinder haben es da schon wieder etwas leichter.
Ich war in einem Sozialzentrum (in dem ich nebenher noch arbeitete) beigeistert, wie selbstverständlich die christlichen, französischen Kids mit der Kultur der muslimischen, arabischen Kids umgingen. War ein besonderer muslimischer Feiertag und die arabischen Schüler kamen mit Henna bemalt zur Hausaufgabenhilfe, dann konnten mich auch die französischen Kinder darüber aufklären. Umgekehrt waren Ostern und Weihnachten nichts Unbekanntes für die Muslime. Am 6. Dezember wurden so St. Nicolas und der l’Aid (das Ende des Ramadans) im Sozialzentrum einfach als gemeinsames Fest gefeiert.
Oft ging es in dem Sozialzentrum drunter und drüber. Manche Betreuerinnen waren mir gegenüber misstrauisch und verschlossen, die Kinder teilweise auch sehr gewaltbereit. Mit einer Fremdsprache dann richtig zu reagieren, fiel mir nicht immer leicht. Doch an meinem letzten Tag waren manche Kids so beleidigt, dass sie mir nicht „Au Revoir“ (Auf Wiedersehen) sagen wollten. Andere malten Bilder zum Abschied und mein Liebling drückte mir schweigend eine Feder in die Hand, die er auf dem Hof gefunden hatte und einen Kuss auf die Backe. Da merkte ich, dass ich nicht nur sichtbare Spuren hinterlassen hatte.
Doch auch umgekehrt hat dieses Jahr Spuren bei mir hinterlassen. Ich habe eine Menge gelernt. Von französischen Abzählreimen über arabische Teezubereitung bis hin zu selbstständigem Leben in einer schimmeligen Bruchbude. Vor allem aber habe ich gelernt, dass es nicht selbstverständlich ist, so behütet aufgewachsen zu sein wie ich, und weiß das erst seit meinem EFD richtig zu schätzen.