Europa ist in Frankreich
Gianna Hermann, 3. Platz
Taizé- ein kleines Örtchen mit alten steinernen Häusern und einem Kloster, inmitten einer weich geschwungenen französischen Hügellandschaft. Dazwischen eine Reihe Obst- und Nussbäume und von Draht umgebene Wiesen, auf denen milchweiße Kühe in Seelenruhe ihr Gras fressen. Eine Handvoll alteingesessener Bewohner, die von der erhöhten Lage der Stadt einen Blick in die Bilderbuchlandschaft Burgunds genießen und ein Leben in völliger Abgeschiedenheit leben könnten, gäbe es da nicht die vielen Jugendlichen aus der ganzen Welt, die jedes Jahr zu tausenden in das kleine Dorf strömen, um für einige Zeit am Leben im Kloster von Taizé teilzunehmen.
Aus allen Erdteilen kommen sie, alle Hautfarben haben sie, viele verschiedene Sprachen sprechen sie. In Taizé suchen sie Gott und ihren Frieden, neue Freunde und Antworten auf die unergründlichen Fragen des Lebens. Welche Antworten ich wohl hier finden werde? Es ist meine erste Woche in Taizé und ich bin gespannt auf die Gemeinschaft mit ihren vielen Gesichtern und Geschichten, die mich erwarten.
Der Tag beginnt mit dem Morgengebet. Langsam trudeln alle Mönche ein, mit ihren weiten weißen Kutten erinnern sie an flügellose Engel, die sich im Mittelgang auf den hölzernen Gebetshockern niederlassen. Zu den gedämpften Klängen klassischer Musik versinken die Brüder im Gebet, viele Besucher tun es ihnen nach. Die meisten haben ihre Schuhe ausgezogen, die Augen geschlossen und sitzen entspannt auf dem Teppichboden der Kirche.
Plötzlich geht ein Ruck durch den Raum, die Blicke richten sich auf den ebenfalls in eine weiße Kutte gehüllten Greis, der am Arm eines anderen Bruders mit langsamen Schritten durch den Mittelgang geführt wird - Frére Roger hat die Kirche betreten und nimmt seinen Platz ein. Bald neunzig Jahre ist er alt und hat Großes bewirkt in seinem Leben. Er ist das Vorbild der gut hundert Mönche, die sich für ein Leben in der Bruderschaft entschieden und dafür ihrer Heimat den Rücken gekehrt haben, um in Taizé ein bescheidenes Leben im Sinne des Evangeliums zu führen.
Dreimal täglich lassen sie alles stehen und liegen, um sich Gott vor allem in der Musik nahe zu fühlen. Die Taizé Messen sind bekannt für ihre in vielen Sprachen gesungenen Lieder und ich lasse mich sofort mitreißen von den eingängigen Melodien, die sich ihren Weg direkt in die Herzen der Kirchenbesucher zu suchen scheinen.
Nach dem Mittagsgebet treffen sich alle zum gemeinsamen Essen. Die Mahlzeiten in Taizé sind einfach, aber schließlich wollen wir hier mit und nicht wie Gott in Frankreich leben. Es gibt Reis mit Mais und dazu Baguette, zum Nachtisch für jeden einen Apfel und ein Päckchen Butterkekse. Für die Menschen, die in den 40er Jahren hierher kamen, ein Festmahl. Vor allem jüdische und agnostische Flüchtlinge waren es, deren Weg sie während des zweiten Weltkrieges nach Taizé führte und die sich von Frére Roger Hilfe auf ihrer Flucht vor den Nazis erhofften.
Es ist unbeschreiblich, was damals geschah. Ob wir heute sicher sind vor einem solchen Grauen? „Das sollten wir zumindest sein“, weiß Bruder John auf meine Frage zu antworten. „Schließlich war es der Gedanke der Gründerländer zu verhindern, dass der Krieg und die Zerstörung Europa jemals wieder heimsuchen würden. Und bisher waren sie ja erfolgreich.“
Für den Nachmittag habe ich mich für die Diskussionsrunde zum Thema „Welches Europa wollen wir?“ gemeldet. Ein sehr aktuelles Thema nach dem Beitritt der zehn neuen Länder in die europäische Gemeinschaft, was zeigt, dass man die Welt in Taizé hinter der Bibel nicht aus dem Blick verliert, sondern sehr bemüht ist, die Botschaft des neuen Testaments auf unsere heutige Zeit zu übertragen. Die Gruppe ist bunt gemischt, Jugendliche unterschiedlichster Herkunft sitzen im Stuhlkreis und lauschen den Worten Bruder Johns, der eigentlich aus Großbritannien kommt und daher fließend Englisch spricht.
„Um ein Europa mit Zukunft zu schaffen, müssen wir lernen, uns zu verstehen. Ich meine damit nicht die sprachlichen Barrieren, die es zu überwinden gilt, sondern die Annäherung auf kultureller und sozialer Ebene. Was wissen wir in Frankreich über die Bräuche in Malta? Was denkt man in Schweden über die polnische Bevölkerung? Wie kommen Engländer mit den Sitten der Ungarn zurecht? Das können wir am besten erreichen, indem wir uns austauschen, indem wir Begegnungen zwischen den Völkern ermöglichen und die Länder besuchen, von denen wir nichts wissen. Und indem wir schon in den Schulen die Neugierde der Kinder wecken, neue Kulturen zu erschließen und nicht den Ehrgeiz fördern, im Geografie-Unterricht die Bevölkerungsdichte Belgiens auswendig zu lernen.“
Beim Lächeln bilden sich viele kleine Lachfältchen um die verschmitzten Augen des Bruders, der uns aufmunternd anschaut. „Nutzt Eure Zeit in Taizé, um neue Kulturen kennen zu lernen und Euch von den Ideen der anderen inspirieren zu lassen. Wir haben im Moment Besucher aus 19 europäischen Ländern zu Gast, darunter auch viele junge Leute aus den neuen EU-Staaten. Redet miteinander, nur so wird es möglich sein, ein Europa zu formen, das nicht nur auf dem Papier zusammen gewachsen ist. Ich habe gesehen, wir haben einige Teilnehmer aus den neuen EU Ländern in unserer Gruppe; vielleicht könnt Ihr uns erzählen, wie Ihr die Aufnahme eurer Länder in die EU erlebt habt?“ Laura aus Estland lässt sich nicht lange bitten. „Als riesiges Fest! Ich habe in Tallinn gefeiert, zusammen mit meinen Freunden. Es war eine tolle Stimmung und alle waren gut drauf, obwohl die Regierung den Alkoholausschank für diesen Abend verboten hatte. Dabei gab es in Estland natürlich auch kritische Stimmen zum Eintritt in die EU. Viele hatten Angst, dass alles teurer werden würde und haben eingekauft wie verrückt. Salz, Mehl, Zucker… in einigen Supermärkten waren gewisse Regale wie leergefegt. Ich bin für die EU-Erweiterung, obwohl die Preise tatsächlich ganz schön in die Höhe geschossen sind. Aber ich bin der Meinung, Estland muss nach vorne schauen. Wir haben ein großartiges Land und legen großen Wert auf Traditionen – aber die können wir auch als EU-Mitglieder beibehalten. Mitglied werden heißt ja schließlich, sich einzubringen und nicht sich aufzugeben!“ Viele nicken zustimmend und ich bin beeindruckt, wie selbstsicher sich die junge Estin gibt.
„Du hast völlig Recht mit dem, was du sagst“, meint Martin aus Litauen. „Wir müssen natürlich in die Zukunft sehen und dürfen uns nicht nur an unseren Traditionen und am Vergangenen festklammern. Trotzdem ist die Vergangenheit da, um aus ihr zu lernen und wirkt sich somit auch wieder auf unsere Zukunft aus. Wie in Estland hat uns auch in Litauen die Geschichte gelehrt, wie schmerzhaft es ist, seine Unabhängigkeit zu verlieren. Die Deutschen haben uns während des zweiten Weltkrieges unserer Freiheit beraubt, danach wurden sie von den Russen abgelöst. Ich habe selber an vielen bitterkalten Wintertagen zwei Stunden für einen Laib Brot angestanden und habe mitgefeiert, als der Kommunismus endlich aus Estland verschwand.“
Hier mischt sich Laura ein. „Natürlich ist auch mir diese Erfahrungen noch zu gut in Erinnerung geblieben. Aber du vergisst, dass sowohl das deutsche als auch das russische Regime in unseren Ländern gewaltsam errichtete Herrschaften waren, und davon kann bei der EU Erweiterung ja wohl keine Rede sein. Wir haben uns selbst dafür entschieden, Mitglied zu werden und diese Mitgliedschaft wird eine Menge Vorteile mit sich bringen.“
Martin lässt sich nicht überzeugen. „Zunächst einmal öffnet sie uns die Türen in die übrigen EU-Länder, was sicherlich viele Jugendliche nutzen werden, um unseren wirtschaftlich schlecht dastehenden Ländern den Rücken zu kehren und anderswo Karriere zu machen. Und was soll daran gut sein, wenn ein Land seinen Nachwuchs verliert?“
Laura ist sich sicher: „Vielleicht trägt der EU-Beitritt gerade dazu bei, dieser Entwicklung entgegen zu steuern, indem er unsere Länder wirtschaftlich so weit stärkt, dass unsere Generation es bald gar nicht mehr nötig haben wird, den Blick ins Ausland zu richten.“
„Das würde ich mir auch für Tschechien wünschen!“, meint Jakob aus Prag. „Dass mir mein Land eine Zukunft bieten kann. Und dass wir dem Ausland endlich mal zeigen können, wer wir sind! Viele Jugendliche in den anderen EU Staaten glauben immer noch, wir leben hinter dem Mond, manche haben einfach ignoriert, dass die „Tschechei“ nicht mehr existiert. In Ländern wie Deutschland und Frankreich haben es viele Jugendlichen offenbar gar nicht nötig, sich Gedanken über Europa zu machen – sie gehören dazu und nutzen die Vorteile. Für uns dagegen bedeutet die Mitgliedschaft hoffentlich den Schlüssel für ein besseres Leben, für das wir hart arbeiten müssen – egal ob mit oder ohne die Unterstützung der EU.“
Jetzt meldet sich Karo aus Weimar zu Wort. „Du hast vielleicht wirklich Recht mit Deiner Behauptung, dass viele deutsche Jugendliche sich noch keine großen Gedanken über die Erweiterung der EU gemacht haben. Ich glaube allerdings nicht, dass das allein auf den Wohlstand unseres Landes zurückzuführen ist. Vielmehr sind die Deutschen immer noch damit beschäftigt, ihre Identität als Deutsche zu finden. Wir müssen immer noch die Aufgabe bewältigen, die grausame Geschichte des zweiten Weltkrieges aufzuarbeiten; hinzu kommt die Wiedervereinigung 1989, die bisher noch lange nicht in den Köpfen der Menschen stattgefunden hat. Doch solange wir uns diese Problematik nicht eingestehen und zur Sprache bringen, können wir auch nicht zueinander finden. Wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, dass wir in Deutschland nun mal zwei unterschiedliche Geschichten hinter uns haben, und dass es deshalb verständlich ist, dass wir von gewissen Dingen unterschiedliche Auffassungen haben. Ich habe das während meines Freiwilligendienstes in Schweden gemerkt, wo ich zusammen mit zwei anderen Volontären in Göteborg gearbeitet habe. Wir hatten manchmal einfach grundverschiedene Haltungen und ich konnte zum Beispiel überhaupt nicht damit umgehen, wenn man von mir erwartete, ich solle mal ein bisschen erzählen, wie es „drüben“ denn so gewesen sei. Die anderen beiden hatten schließlich keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn man beim Telefonieren hört, wie sich die Stasi einklickt. Ich bin der Meinung, dass wir erst zu unserer deutschen Identität und vor allem Einheit finden müssen, um uns wirklich Gedanken über unsere Rolle in der EU machen zu können.“
Nun meldet sich Jannis aus Zypern zu Wort. „Die Frage nach der Einheit kann ich nur zu gut nachvollziehen. Schließlich ist sie in unserem Land nicht nur in den Köpfen der Menschen, sondern auch auf dem Papier gescheitert. Und ich gehöre leider nicht zu dem Teil, der in die EU aufgenommen wurde. Es macht mich unheimlich traurig, zu sehen, wie unser Volk einfach nicht über die alten Schatten springen kann und der Hass von Generation zu Generation weiter getragen wird. Wenn ich mir vor Augen führe, wie wichtig die Religion sowohl für das türkische als auch für das griechische Volk ist, enttäuscht es mich schrecklich, dass wir nicht einmal in der Lage sind, das alte Kriegsbeil endlich zu begraben.“
Bei diesen Worten wird auch das Gesicht Bruder Johns ernst, der den Worten des „jungen Europas“ die ganze Zeit über gespannt gelauscht hat. „Es ist traurig, dass sich die Menschen grundsätzlich an das Schlechte, das man ihnen getan hat, viel besser erinnern als an das Gute. Diesem Teufelskreis kann man allein mit einer Generation anders denkender Jugendlicher entgegensteuern. Wir müssen lernen, dass allein das Miteinander zu Problemlösungen führt und dass das Gegeneinander die Dinge immer nur verkompliziert. Das ist ein so einfaches Prinzip, das man den Menschen dennoch nur so schwer begreiflich machen kann.“
Wie Recht er damit hat. Ich muss erst mal alles in meinem Kopf ordnen, was ich da gehört habe. So viele junge Stimmen, die so große Hoffnungen in die EU haben und gleichzeitig soviel Angst vor ihr. Ihnen zuzuhören, hat meine Neugierde geweckt – was denken Jugendliche in Malta, Ungarn, Slowenien, Lettland, Polen und der Slowakei über die EU Erweiterung? Sicherlich werde ich während meiner Zeit hier auch noch die Möglichkeit haben, mich mit jungen Leuten aus diesen Ländern auszutauschen.
Beim Mittagstee sitze ich neben Sara, die den weiten Weg aus Hawaii auf sich genommen hat, um das Leben in Taizé hautnah miterleben zu können. Als ich ihr von unserer Diskussion erzähle und sie frage, ob sie sich auch vorstellen könne, Europäerin zu werden, zuckt sie mit den Schultern. „Sicher kann ich das. Aber erst mal will ich versuchen, mich als Mensch zu fühlen, dem die Fähigkeit gegeben ist, vernünftig zu handeln und seine Mitmenschen mit Würde und Respekt zu behandeln. Schließlich ist es das, worauf es letztlich ankommt.“ Vielleicht liegt in dieser Haltung die Antwort auf die Frage nach dem Europa der Zukunft?
Ich habe mich mittlerweile auf den Weg zu „Cadolle“ gemacht, Taizés Werkstatt, wo meine Arbeitsgruppe schon auf mich wartet. Wie allen anderen wurde mir bei meiner Ankunft eine Aufgabe zugewiesen, um die ich mich die ganze Woche über kümmern werde. Nur wenn alle ihren Teil für die Gemeinschaft im Kloster leisten, kann sie bestehen. Jeder kann seine Stärken einbringen, wie er kann – deswegen sind wir schließlich alle verschieden.
Die Stärke der beiden Estinnen in meinem Team ist ohne Zweifeln das Singen- und so fegen wir den Werkstatt Boden zu einem estnischen Sommer Lied.
Europa ist in Frankreich. Und die ganze Welt steht drum herum.