Elektronische Musik in Russland: Zwischen slawischer Tradition und der westlichen Moderne
Eine Reportage über elektronische Musik in Russland und die kulturellen Hintergründe und politischen Einstellungen der Interpreten.
Gibt es überhaupt noch Unterschiede zwischen den Musikszenen verschiedener Länder? Das Internet ermöglicht seit der Jahrtausendwende einen extremen Informationsaustausch, welcher die kulturelle Globalisierung vorangetrieben hat. Eine globale Angleichung wird gefördert, westliche Einflüsse verbreiten sich weltweit und konkurrieren mit den Traditionen der einheimischen Kultur. Auf elektronische Musik wird auf der ganzen Welt getanzt, das Internet beherbergt ein Netzwerk zahlreicher Produzenten und Konsumenten, welche sich ungehindert austauschen können. Und trotzdem weist jede Region auf der Erde spezifische Besonderheiten auf. Während australische Produzenten viel R&B in ihre Musik einfließen lassen, ist elektronische Musik in den Niederlanden oft von Funk und Jazz inspiriert. Jeder Interpret durchläuft schließlich einen Sozialisierungsprozess, kommt in Kontakt mit der lokalen Untergrundszene und wird somit geprägt von der einheimischen Kultur und Subkultur.
In Russland endet die Auseinandersetzung mit der einheimischen Kultur oft im Zwiespalt. Während manche Interpreten die Vergangenheit der slawischen Kultur schätzen, distanzieren sich andere Interpreten von der aktuellen politischen Situation des Landes und fühlen sich zu den westlichen Kulturzentren wie Berlin oder Barcelona hingezogen. Kann der elektronischen Musikszene in Russland also ein Andersartigkeitsstatus zugesprochen werden oder handelt es sich doch eher um eine billige Kopie von Westeuropa?
Oleg Buyanov lebt in Moskau, als OL macht der 28 Jährige Musik. In seinen Tracks verwendet er zahlreiche Samples aus russischen Filmen, Schallplatten und Kassetten aus der Sowjetzeit. Er ist fasziniert von dem kulturellen Erbe in Film, Musik und Kunst und verbringt viel Zeit damit, nach alten, staubigen Samples zu graben. Auf diese Weise verbindet OL die westliche und die östliche Welt auf eindrucksvolle Weise: Während die Kicks, Basslines und Snares an Detroit Techno oder Chicago House erinnern, tauchen immer wieder Elemente auf, welche an traditionell russische Musik erinnern, wie zum Beispiel die Tempoänderungen im Track „Vertical Race“: https://www.youtube.com/watch?v=TVpEyt2d4p4 oder die Vocals in „Vodka“, einer Hymne an das russische Nationalgetränk. https://www.youtube.com/watch?v=6R2_4mIeQMQ. Besonders gut gelingt OL die Fusion der zwei Welten bei seinem Track „Lum Edit“, wo eine massive Bassline und englische Vocals von einer schrillen slawischen Melodie begleitet wird: https://www.youtube.com/watch?v=mQ6RU_6nPGk
Ebenfalls aus Moskau kommt das Trio „Tantsui“, welche mit einer melodischen und fröhlichen Live-Performance begeistern können. Ihr Sound ist entspannt und hell, jedoch trotzdem clubtauglich. Stilistisch gesehen sind sie der Popkultur wesentlich näher angesiedelt als OL. Mit dem Titel „Beautiful Day“ https://www.youtube.com/watch?v=nqMhMmKlCSc hat die Gruppe Hörer erreicht, welche über Russland hinaus reichen und doch treten sie vor allem in Moskau auf. Ihre atmosphärische Musik performen die Drei mit Launchpads, Analoggeräten und Live Vocals. Ihr Stil fällt jedoch nicht aus dem Rahmen der westeuropäischen Musik. Lediglich der Name „Tantsui“, welcher Estnisch ist und „der Tanz“ bedeutet lässt Spekulationen auf eine Verbindung mit dem Baltikum zu.
Der Künstler Vtgnike ist hingegen dafür bekannt, seinem Sound seine slawische Herkunft aufzustempeln. Sein Debutalbum „Dubna“ ist auf Nicolas Jaars Label „Other People“ erschienen und bereits das Albumcover erzählt eine Geschichte. Dubna ist eine Stadt, nördlich von Moskau und das Cover des Albums zeigt das Gemälde „Die Jäger im Schnee“ von Pieter Bruegel. Allerdings wurde das Gemälde, welches 1565 von dem niederländischen Maler erschaffen wurde nachträglich modifiziert: Vtgnike hat dem Werk seine eigene Herkunft aufgedrückt. An jener Stelle, wo normalerweise Menschen auf einem zugefrorenen See spielen, schießen massive sowjetische Plattenbauten aus dem Boden. Der zugefrorene See befindet sich nun dafür auf dem Dach des riesigen Komplexes. Das Aufeinandertreffen zweier Welten beginnt also bereits im Albumcover, eine Schneelandschaft aus den Niederlanden wird unterbrochen von den kolossalen Plattenbauten Dubnas. Doch nicht nur die graphische Gestaltung des Albums ist vielschichtig, auch die Musik besteht aus vielen Ebenen. Unruhige, holprige und oftmals melancholische Rhytmen machen es schwer sich im Takt der Musik zu bewegen. Immer wieder faden Samples aus russischem Pop und R&B in die Klangwolke hinein. Elektronischer Hall, Verzerrung und Rauschen werden abgelöst von warmen, organischen Melodien. Ein Experiment, das nur mit sehr offenen Hörern funktioniert. Dabei löst sich Vtgnike vollkommen von den Konstrukten, die normalerweise den Aufbau elektronischer Musik bestimmen. Seine Tracks wirken skizzenhaft und unvollendet, sie lassen die Frage offen, wo sie denn eigentlich hinführen sollen. Sie führen in eine Phantasiewelt. Eine Welt, in der traditionelle Jäger mit ihren Hunden um die Hochhäuser einer Stadt nördlich von Moskau jagen. Vtgnikes Sound lässt Raum zur Interpretation und regt die Phantasie an. Denn was liegt eigentlich hinter den sowjetischen Plattenbauten in Bruegels Gemälde?
Dubna: https://soundcloud.com/otherpeoplerecords/sets/vtgnike-dubna-lp
Untitled Juke: https://www.youtube.com/watch?v=c7kWxcOgcEQ
Seine Releases und Live Performances machten ihn zu einem beliebten Interpreten in Moskau – doch der Erfolg währt nicht lange. 2014 wird er kurz vor einem Auftritt von der Polizei festgenommen, er sei 4 Jahre lang gesucht worden aufgrund von Drogenhandel und –besitz. Er selbst jedoch bestritt dies, er habe lediglich Marihuana zum privaten Konsum besessen. Nach seiner Inhaftierung wurde eine Benefizparty veranstaltet, deren Erlös dazu genutzt werden sollte, dass Vtgnike sich einen Anwalt leisten konnte. Nur wenige Monate nach dem Release seines ersten Albums verlieren sich seine Spuren nun im Netz. Ein Interview mit der Presse lehnte er ab. Nach Vtgnikes Festnahme veröffentlichten seine Freunde die Musik, an der er gerade arbeitete auf Bandcamp. http://radology.bandcamp.com/. Passenderweise heißt das Werk „Real Love Doesn’t Have Past Tense“. In diesem Album erhöht Vtgnike die Geschwindigkeit seiner Musik auf 140bpm und lässt häufiger Drum & Bass oder Jungle Einflüsse durchschimmern. Was bleibt ist seine einzigartige slawische Handschrift.
„In Russland läuft die Kunst angesichts der politischen Repression zur Hochform auf.“, so titelt der Fluter, Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung über die russische Kreativszene. (http://www.fluter.de/de/144/thema/13477/)
Gemeint sind damit vor allem bildende Künste, Street Art oder Kunstperformances. Aber wie reagiert die russische Musikszene auf die politische Unterdrückung? Werden Beschränkungen als kreativitätsfördernd oder als störend empfunden?
Elektronische Clubmusik ist in der Regel unpolitisch, sie setzt sich weder in Form von Texten kritisch mit der bestehenden Gesellschaft auseinander, noch vereint sie eine Szene, welche eine bestimmte politische Meinung verkörpert. Und doch beeinflusst die Politik das Lebensgefühl der Musiker und somit auch deren kreativen Output.
In einem Interview, das mir das Moskauer Technoprojekt Wunderblock gibt, distanzieren sich die Musiker von ihrer Heimat - sie fühlen sich eher von Berlin angezogen.
Kaleidoskopyian: Was denkt ihr über die Musikszene in Moskau? Wie hat sie sich in der Vergangenheit entwickelt?
Wunderblock: Die Moskauer Szene ist pop- und rockorientiert. Und Disco-House, es gibt Diskotheken. Alle anderen elektronischen Stilrichtungen sind ziemlich tot.
K: Ihr seid 3 Personen. Kommt ihr alle ursprünglich aus der Technoszene oder seid ihr Musiker aus verschiedenen Stilrichtungen?
W: Wir sind wählerisch: von Jazz zu Ambient, von Noise zu Techno. Leider hat einer der Wunderblock Gründer, Igor Ivanov, aufgrund von bestimmten Umständen das Projekt verlassen… Danach hat sich unser Sound von deep und jazzy in Richtung des experimentellen Techno Underground entwickelt.
K: Was denkt ihr über eure Stadt und euer Land? Was mögt ihr an Russland?
W: Russland ist kein guter Ort zum sein, wegen vielen Gründen… Wir mögen mehr die Freiheit der alten europäischen Kulturzentren: Berlin, Amsterdam, Barcelona…
K: Ihr habt bereits mit Vertretern von anderen Kunstformen zusammengearbeitet. Wie hat euch das beeinflusst?
W: Wir mögen visuelle Kultur wie Malerei und Filme. Godard, Kubrick und Lynch von der einen Seite, Van Gogh, Monet und Malevich von der anderen Seite – sie sind alle unsere Lehrer. Wir mögen es, dass Musik auch „filmisch“ oder „visuell“ sein kann. Wir haben angefangen zusammenzuarbeiten mit Licht.Pfad Studio, Berlin, https://vimeo.com/113002920 und Introwerks, Malta. https://www.youtube.com/watch?v=ZKKgFlzS88Q
Die haben die letzten Musikvideos für uns gemacht.
K: Was sind eure Pläne für die Zukunft?
W: Es werden einige Releases auf unserem eigenen Label und auch Musik von uns auf anderen Labels erscheinen. Und wir wollen bald wieder in Berlin spielen!
Der Name „Wunderblock“ ist eine Anspielung an die „Notiz über den Wunderblock“, welche Sigmund Freud 1925 verfasste. Der Wunderblock ist ein Kinderspielzeug, welches aus einer Wachstafel besteht, auf die mit den Fingern durch Druck geschrieben werden kann. Die Spuren von früheren Beschriftungen bleiben dabei im Material erhalten. Dieses Modell beschreibt das menschliche Gedächtnis: es speichert beständig und unersättlich Informationen von Reizen ab, welche in Form von Erinnerungen erhalten bleiben. Die Kapazität des Gedächtnisses ist dabei unbegrenzt.
Die musikalische Entwicklung des Wunderblock Projekts ist beeindruckend: die verfolgten Stilrichtungen haben sich sehr gewandelt. Zu Beginn wurde vor allem ruhige Ambientmusik mit Jazzeinflüssen veröffentlicht. https://soundcloud.com/ketamarecords/wunderblock-rain-part-2-original-mix Ihre Rain EP beinhaltet entspannte Melodien, welche zum Träumen und Verweilen anregen.
Spätere Releases wirken darauf wie eine 180-Grad-Drehung. Schneller Techno mit monotonen, kalten Geräuschen versetzt den Hörer in einen Trancezustand. Statt warmer, organischer Melodien wird das Ohr mit harten Kicks und tiefen Basslines geflutet. Mit ihrem Label Wunderblock Records veröffentlicht das Duo Technotracks zahlreicher anderer Produzenten aus aller Welt und dient somit als Sprachrohr für die Untergrundszene.
In Russland fühlen sich viele dem Techno der härteren Gangart verpflichtet, so auch Sirius C, der mit einem sehr aufwendigen Live Set Up auftritt. http://equipboard.com/siriusc
Kaleidoskopyian: Was hältst du von der russischen Musikszene? Wie hat sie sich in den letzten Jahren entwickelt? Ist es gut als Techno Interpret in Russland zu leben?
Sirius C: Die russische Musikszene entwickelt sich, jedes Jahr ist ein kleiner Fortschritt. Es gibt viele interessante Musiker, Events und Labels, aber die meiste gute Musik bleibt im Underground. Es ist sehr schwer ein echtes Geschäft mit elektronischer Musik in Russland zu machen. Die populäre Musik ist oft poppiger Vocal Shit, EDM und vor allem irgendwas mit „Deep“. Ein Technomusiker in Russland zu sein bedeutet im echten Underground zu sein. Techno ist dafür sehr beliebt in Sankt Petersburg und Moskau, in diesen Städten kann man immer gute Musik finden. Interpreten aus anderen Städten verbreiten ihre Musik vor allem übers Internet. Manche erreichen einen internationalen Erfolg, aber meistens bleibt ihre Musik ungehört.
K: In welcher Stadt lebst du? Habt ihr eine belebte Musikszene? Oder denkst du, du bist erfolgreicher darin, deine Musik übers Internet zu verbreiten?
SC: Ich lebe in Sochi, ein wunderschöner Ort am Schwarzen Meer. Es ist der touristischste Ort von Südrussland, daher sind alle Events hier für Touristen. Die meisten Clubs spielen Popmusik und EDM, Techno ist hier nicht beliebt. Ich arbeite als Tontechniker in einem großen Club und mache meine Musik zu Hause. Ich bereite neue Live Sets mit meinen neuen Geräten vor.
K: Ich finde deine Musik hört sich sehr düster an. Wenn ich sie höre, denke ich an bedrückende, verschmutzte Industrielandschaften. Was inspiriert dich Musik zu machen und was möchtest du, was der Hörer fühlt?
SC: Meine Inspiration ist immer da, es kommt und dann kann ich einfach nicht aufhören Musik zu machen. Ich versuche einzigartige Sounds zu machen, indem ich etwas komplett Neues kreiere und oft ist es wirklich sehr düster, aber ich denke nicht, dass es bedrückend ist. Düstere Atmosphären und heftige Sounds helfen mir den Effekt eines tiefen psychedelischen Trips ohne Drogen zu erreichen. Diese Sounds bewegen den Knotenpunkt.
K: Du performst bei deinen Auftritten live, welches Set Up verwendest du? Warum hast du dich entschieden kein DJ zu sein, sondern Live zu spielen?
SC: Mein Live Set Up besteht aus 8 Geräten, darunter Synthesizer, Drum Machines, Kompressoren und weitere Effektgeräte. Es ist sehr interessant mit Analoggeräten zu spielen, ich mach das jetzt seit 8 Jahren und kann nicht aufhören es zu lieben. Jedes Set ist einzigartig, ich interpretiere meine Tracks jedes Mal neu. Und niemand weiß, was ich in meiner nächsten Show spielen werde. Manchmal spiele ich auch als DJ, das mag ich. Es ist ein gutes Handwerk, wenn man sich nicht fühlt, als wäre man nur das Radio oder Hintergrundmusik auf einer betrunkenen Party.
K: Was sind deine Zukunftspläne? Was möchtest du noch erreichen?
SC: Ich plane ein paar russische Städte mit meinem neuen Live Set zu besuchen. Sehr gerne würde ich auch in Europa auftreten
Sirius C – Ledokol: https://soundcloud.com/districtfacility/df030-sirius-c-ledokol
Zweifelsohne ist die russische Musikszene eine interessante Szene. Wegen der geringen medialen Aufmerksamkeit, bleiben viele gute Interpreten ungehört. Nun liegt es am Hörer selbst in die Szene einzutauchen und die Tiefen des Undergrounds selbst zu erkunden.
Interpreten zum Weiterhören: Bop, Nocow, Nuage, Ksky, Pixelord, Cream Soda, …
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