Eine Waffel zwischen zwei Sitzen
Meine Vermutung, warum Menschen so wenig über Belgien wissen und was eine Waffel zwischen zwei Sitzen damit zu tun hat
Nach meinem Abi wurde ich von vielen Leuten gefragt, was ich nun vorhabe. Wenn ich dann erzählt habe, dass ich ein Auslandsjahr in Belgien mache, konnten nur wenige spontan etwas über unseren Nachbarn im Westen sagen, das nichts damit zu tun hatte, dass die Flagge der deutschen ähnelt - Belgien, das Land der … ja, was denn eigentlich?
Nach etwas Überlegen kam der ein oder andere auf Belgische Pommes und Waffeln. Mit Glück wurde vielleicht noch Schokolade erwähnt. Dass Brüssel die Hauptstadt ist, war für einige zumindest nicht so präsent, wie man es sich wünschen würde, deutlich schlimmer war aber immer die Frage nach der Sprache: „Ah, du gehst nach Belgien? Dann lernst du dort sicher auch … ääh … Französisch?“
Zugegeben, Französisch wird in Belgien von 40% der Bevölkerung, hauptsächlich in der Region Wallonien und Brüssel, gesprochen, daher ist das natürlich nicht falsch. Was mich nur überraschte, war die, meistens einen Satz später kommende, Verwunderung der Menschen, als ich erklärt habe, dass ich in den niederländischsprachigen Teil gehen werde: „Niederländisch? In Belgien spricht man Niederländisch?“ Ja, 59% der Bevölkerung sprechen Niederländisch! Und wer bei der Rechnung aufgepasst hat, der wird feststellen, dass noch 1% fehlt. Das ist der kleine deutschsprachige Teil im Osten des Landes[1].
Natürlich kann man nicht erwarten, dass jeder perfekt über jedes Land informiert ist. Gerade weil die naheliegendsten Nachbarländer bei mir in der Heimat Schweiz und Österreich sind, ist Belgien vermutlich nicht so präsent in den Köpfen der Leute wie jetzt bei jemanden, der bspw. in Aachen wohnt. Dennoch war ich wirklich überrascht wie wenig die meisten letztendlich wussten.
Durch viele Gespräche dieser Art ist mir schon vor meiner Ankunft hier deutlich geworden, dass Belgien nach außen hin eine vergleichsweise geringe Strahlkraft hat. Nun bin ich vier Monate hier und bin zu mehreren eigenen Vermutungen gekommen, woher das kommt.
Vorneweg muss ich aber noch sagen, dass die Städte hier fast alle sehr schön sind, da noch viele alte Gebäude erhalten sind. Das lockt dann teilweise so viele Touristen an, dass Brügge schon mal als das „Venedig des Nordens“ bezeichnet wird. Das auch nicht zu Unrecht, wenn man die Menschenmassen dort an einem Samstag mal erlebt hat. Nichtsdestoweniger finde ich, dass irgendetwas, das ich nicht benennen kann, fehlt.
Einerseits liegt es sicher daran, dass die Natur hier leider wirklich nichts Besonderes ist. Es gibt im ganzen Land keine wirklich großen Wälder oder Seen, wodurch die ländlichen Gebiete eher kahl erscheinen. Die 60km Nordseeküste sind auch nicht sehr ansehnlich, da direkt am Strand riesige Hochhausalleen thronen. In Wallonien gibt es zwar vermehrt Waldgebiete, aber dadurch, dass Eifel, Vogesen und Schwarzwald dann auch nicht mehr weit weg sind, zieht es nicht nur ausländische Touristen, aber auch Belgier selber, eher dort hin.
Des Weiteren fehlt es meiner Meinung nach ein wenig an kulturellem Angebot bzw. der Aufmerksamkeit für selbiges, das Menschen ermutigt, Belgien zu besuchen. Damit meine ich Dinge wie Sportvereine, Musiker, Freizeitparks, historische Bauten etc.. All das existiert hier natürlich auch, aber eben ein bisschen kleiner und unbekannter.
Der meiner Ansicht nach größte Punkt ist jedoch, dass Belgien nicht wirklich eine eigene Kultur und Identität hat bzw. diese einfach nicht klar definiert ist - Plump gesagt, es fehlt an Stereotypen. Die Behauptung, Belgien sei effektiv ein geteiltes Land, wird häufig belächelt und das größtenteils auch berechtigt. Wer sich etwas intensiver mit dem belgischen Staatswesen beschäftigt, wird schnell merken, dass Flandern und Wallonien gar nicht ohne einander können. Dennoch muss man konstatieren, dass es in meinem belgischen Alltag viele Dinge gibt, die auf eine ganz profane, und größtenteils auch unpolitische, Art eben doch eine Kluft zwischen den beiden Regionen darstellen.
Das fängt an wenn ich hier eine Zeitung lese, Radio höre oder im Fernsehen die Nachrichten schaue. Jedes mal aufs Neue stelle ich fest, dass beinahe nur über Flandern gesprochen wird. Irgendwo ist es ja logisch, dass eine flämische Zuschauerschaft eher an Flandern interessiert ist, aber es löst auf der anderen Seite eben auch das Problem nicht, dass man gefühlt nichts von einem großen Teil des Landes mitkriegt. Warum gibt es keine (bekannten) bilingualen Medien? In Deutschland haben wir das mit arte doch auch, obwohl wir uns nicht einmal mit Frankreich im selben Staat befinden.
Schulbildung spielt in dieser Angelegenheit selbstverständlich auch eine große Rolle. So lernen die Kinder in Flandern als erste Fremdsprache, noch vor Englisch, ab der fünften Klasse Französisch[2]. In Wallonien hingegen wird Niederländisch nur optional angeboten und ist nicht verpflichtend[3].
Dadurch können viele Flamen zumindest einigermaßen Französisch, die meisten Wallonen aber kein Niederländisch[4]. Auch das trägt nicht dazu bei, eine „gesamtbelgische Identität“ zu stärken.
Historisch betrachtet spielt es darüber hinweg eine große Rolle, dass bei der Unabhängigkeit Belgiens 1830 bzw. 1839 Französisch noch die einzige Amtssprache war. Erst 1898 wurde Niederländisch offiziell als Amtssprache anerkannt. Allgemein galt Französisch dennoch als „gehobenere“ Sprache, während Flämisch negativ konnotiert als Sprache der ungebildeten ländlichen Bevölkerung galt[5].
Diese Unterdrückung war sicher ein Katalysator für flämischen Nationalismus und sorgte dafür, dass der Stolz auf die Sprache und Kultur Flanderns nur größer wurde. Diesen Stolz habe ich schon selber mehrfach daran festgestellt, dass mich junge Menschen fragen ob ich Niederländisch spreche, während mich ältere Menschen noch fragen, ob ich Flämisch spreche.
Wenn man das alles bedenkt und dazu noch das aktuelle politische Bild Belgiens beachtet (Die Regierung ist zusammengebrochen, flämisch-nationalistische Parteien sammeln zunehmend große Erfolge und bei den folgenden Wahlen besteht keine große Hoffnung auf eine deutliche Mehrheitsfindung), dann kann man sich eben doch fragen: Belgien – wie funktioniert das eigentlich?
So ganz scheinen die Belgier es auch nicht zu wissen. Die meisten, mit denen ich gesprochen habe, verstehen das politische System nicht einmal und allgemein ist das Land an sich schlichtweg nicht so präsent, ausgenommen die Fußballnationalmannschaft spielt. Die Frage ist aber möglicherweise auch, braucht es sowas überhaupt? Braucht Belgien diese nationale Identität oder gar Patriotismus? Sicher, in den USA z.B. funktioniert das System "Melting Pot" zumindest in der Hinsicht, dass alle mit dem Vaterland diesen einen gemeinsamen Nenner haben. Die Grenze von diesem Nationalstolz zu Fremdenfeindlichkeit ist abe leider häufig fließend und daher bleibe ich bei der Frage "braucht Belgien das?".
Als ich dann neulich im Bus saß und eine Waffel sah, die hinter zwei Sitzen steckte, schien mir das irgendwie eine schöne Allegorie für Belgien. Die Waffel, die unscheinbar, aber dennoch sichtbar, wenn man genauer hinschaut, zwischen den Stühlen hängt, steht für dieses „Irgendwas“, das Wallonen und Flandern zusammen hält. Es ist nicht groß, es ist nur im Hintergrund und es ist vielleicht auch völlig banal. Aber wenn es letztendlich das hervorragende Essen ist, das die politische Integrität dieses Landes sicherstellt, dann soll es eben so sein.
---
Quellen:
[1] https://www.cia.gov/library/publications/resources/the-world-factbook/geos/be.html
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Belgien#Schulen_der_Fl%C3%A4mischen_Gemeinschaft
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Belgien#Schulen_der_Franz%C3%B6sischen_Gemeinschaft
[4] https://en.wikipedia.org/wiki/Languages_of_Belgium#Multilingualism
[5] https://web.archive.org/web/20070614025223/http://www.unrisd.org/UNRISD/website/document.nsf/ab82a6805797760f80256b4f005da1ab/ec506a59176be044c1256e9e003077c3/%24FILE/Deschou.pdf