Eine Geschichte von zehntausend Luftballons
Was wir von polnischen Werftarbeitern, einer kleinen Gruppe engagierter Franzosen und einem Mädchen mit blauen Haaren über Solidarität lernen können.
Das Wort Solidarität kann vieles bedeuten. Für manche ist es ein leerer Begriff, für einige ein politisches Ideal und für andere das Fundament menschlichen Miteinanders. Für ein europäisches Land jedoch bedeutet es noch viel mehr: In Polen ist das Wort Solidarität, auf Polnisch Solidarność, untrennbar mit der gleichnamigen Gewerkschaft verbunden. Die daraus folgende nationale Bewegung leistete einen entscheidenden Beitrag zur politischen Wende 1989 und hat die polnische Geschichte maßgeblich verändert. Ich hatte das Glück, ein Jahr in unserem Nachbarland zu verbringen und selbst zu erfahren, was Solidarität in und für Polen bedeutet.
Wenn man sich also auf die Suche nach der Bedeutung des Wortes macht, ist das Europäische Zentrum der Solidarność in Gdańsk nicht der schlechteste Anfang. Die Zeit der Solidarność in den Achtzigerjahren ist voller Momente beispielloser Solidarität, erst unter den Werftarbeitern in Gdańsk und später in ganz Polen. Die Geschichte, die mir aber am meisten in Erinnerung geblieben ist, erzählt von europäischer Solidarität. Nachdem 1981 in Polen das Kriegsrecht verhängt wurde, taten sich französische Gewerkschafter und polnische Einwanderer in Paris zusammen, um die Menschen in der Krise zu unterstützen. Nach genauer Analyse von Wetterdaten ließ das „Komitee der Freien Ballons für Polen“ am 5. und 6. März 1982 zehntausend Luftballons mit Flugblättern und Informationen für die polnische Bevölkerung auf der dänischen Insel Bornholm steigen. Viele der Ballons überquerten erfolgreich die Ostsee und landeten in Polen, auch wenn einige bis in die DDR schwebten. Von der Regierung als Propaganda verurteilt, wurden die Flugblätter von vielen Polen als Unterstützung aus dem Ausland und als Bekräftigung ihres Widerstands begrüßt. Auch in Westeuropa wurde die Aktion begeistert aufgenommen und als Zeichen der unbesiegbaren Freiheit gefeiert.
Im Jahr 2019 sieht es mit der Solidarität anders aus. Polen wird oft als erstes Beispiel für Nationalismus in Europa genannt. Die EU sieht nach zunehmenden Justizreformen der konservativen Regierung den Rechtsstaat in Gefahr. Vor einem Monat wurde der Gdańsker Bürgermeister Paweł Adamowicz, der für eine liberale und weltoffene Politik stand, ermordet. Die polnische Geschichte ist längst zu einem Kampfmittel der Parteien geworden. Es scheint manchmal, als ob der Kampf der Solidarność um die Freiheit aus den Erinnerungen der Menschen gelöscht wurde. Aber das stimmt nicht.
Bei dem Besuch unserer Freiwilligengruppe im Museum im letzten Jahr hatten wir das Glück, die Stadtführerin Inka zu treffen. Inka war in den Achtzigerjahren eine rebellische Jugendliche mit blaugefärbten Haaren, die die Solidarność mit Graffiti unterstützt hat. Heute sind ihre Haare blond, aber den Kampfgeist hat sie sich bewahrt. Im regierungsnahen Museum des Zweiten Weltkriegs darf sie aus politischen Gründen keine Führungen mehr geben. Bei den Protesten des „Schwarzen Freitag“ gegen ein Abtreibungsverbot war sie vorne mit dabei und ließ auch bei der Führung keine Gelegenheit aus, um die Regierung zu kritisieren. Inka hat Angst, dass die nächsten Wahlen nicht mehr demokratisch sein könnten, aber sie glaubt auch an die Polen und ihren Widerstand. Und damit liegt sie richtig. Im Januar forderte der Kulturminister, dass das Museum nach den Vorstellungen von PiS umgebaut werden sollte, ansonsten drohte die Streichung der staatlichen Fördermittel um beinahe die Hälfte. Das Museum weigerte sich und rief die Bevölkerung zu Spenden auf; innerhalb von kurzer Zeit wurden die fehlenden drei Millionen Złoty gesammelt.
Für mich bedeutet Solidarität deshalb, mit anderen oder für andere für die Freiheit einzustehen. Das kann der Umsturz eines kommunistischen Regimes sein. Das Recht, über seinen eigenen Körper zu bestimmen. Der Schutz der eigenen nationalen Geschichte vor einer radikalen Politisierung. Oder es geht um die Verteidigung des Rechtsstaats.
Solidarisch sein heißt auch, dass wir anderen Europäer nicht wegsehen, wenn mitten in Europa die Demokratie gefährdet wird. Wir sind als Kontinent und als Gemeinschaft zu weit gekommen, um dem jetzt keine Beachtung zu schenken. Gleichzeitig heißt es aber auch, dass wir nicht alle Polen als blinde PiS-Anhänger abstempeln, dass wir Menschen wie Inka zuhören und dass wir ihre Proteste ernst nehmen. Denn Solidarität ist kein Superman, der vom Himmel herabschwebt und den Leuten ihre Freiheit verkündet. Solidarität ist die Unterstützung von denen, die um ihre Freiheit kämpfen, und die Zusammenarbeit für ein gemeinsames Ziel. Dieser Gedanke ist die Grundlage für das Europa, in dem wir heute leben. Und wenn vor 37 Jahren Tausende von Luftballons den Eisernen Vorhang überqueren konnten, dann sollten wir heute erst recht etwas tun.