Ein wenig Normalität kehrt ein
Nachdem der Notstand in Estland am 17. Mai beendet wurde und somit Restaurants und Cafés wieder öffnen können, kehrt in meinen Alltag ein wenig Normalität zurück.
Über sechs Wochen haben meine Mitbewohnerin und ich keine Freunde getroffen, um uns, unsere Klienten und andere Menschen keiner unnötigen Gefahr auszusetzen. Mitte Mai, mit Beendigung des nationalen Notstandes, entschieden wir dann, dass wir uns, natürlich vorsichtig und mit dem Risiko im Hinterkopf wieder mit Freunden treffen könnten. Zuerst besuchte uns eine andere Freiwillige aus Deutschland, mit der wir einen langen Waldspaziergang unternahmen, bevor wir gemeinsam Lasagne kochten. Es war seltsam plötzlich wieder, wie wir es vor einigen Monaten noch beinahe täglich getan haben, mit Freunden Zeit zu verbringen, gemeinsam zu kochen und zu reden. Die Freiwillige, die derzeit in Tallinn lebt, blieb bis abends und lud uns bei ihrer Verabschiedung noch zu ihrer, aus Corona-Gründen sehr klein ausfallenden, Abschiedsparty ein. Abschied. Erst da wurde mir so wirklich bewusst, dass ich mich in den letzten Zügen meines Auslandsjahres befinde und dass viele meiner Freunde schon Anfang Juni die Heimreise antreten werden. Nicht verfrüht wegen des Virus, nein, einfach weil ihre Zeit und ihr Vertag hier enden.
Einige Tage später besuchten uns dann abermals Freunde in Tapa, zwei Freiwillige aus Italien und der Türkei gemeinsam mit ihrem Mitbewohner aus Indien. Letzterer hatte meine Mitbewohnerin und mich nämlich vor einigen Monaten zu einem traditionell indischen Essen eingeladen, mit der Hand essen inklusive, und wir hatten uns vorgenommen, uns dafür noch zu revanchieren. So bereiteten wir ein typisch deutsches Mittagessen mit Kartoffeln und Schnitzel vor, was allen sehr zu schmecken schien. Trotzdem war unser Treffen von schlechten Nachrichten überschattet, da unser indischer Freund leider seinen Job beim Flughafen in Tallinn, aufgrund von Einsparmaßnahmen wegen des Virus, verloren hat. Während dies für Europäer zwar Geldmangel und enormen Druck bedeuten würde, heißt das für ihn aber vermutlich sogar die ungewollte Abschiebung nach Indien. Ohne bestehendes Arbeitsverhältnis läuft nämlich seine Aufenthaltsberechtigung in Europa ab. Wären die indischen Grenzen nicht geschlossen und gäbe es Flüge in seine Heimat, so hätte er schon längst ausreisen müssen.
Das vorletzte Mai Wochenende waren meine Mitbewohnerin und ich dann zum ersten Mal seit Wochen zwei Tage nacheinander unterwegs. Samstag trafen wir uns mit einer Freiwilligen aus Spanien und einer aus Italien beim Kompressor. Der Kompressor ist ein bekanntes Pfannkuchenhaus in Tallinn, das ausgesprochen leckere Pfannkuchen, sowohl süß als auch herzhaft, anbietet. Vorsichtshalber und aus unserer Erfahrung hatten wir im Voraus einen Tisch reserviert, mussten aber mit Erstaunen feststellen, dass selbst an einem Samstag um 18 Uhr, wo man sonst selbst alleine keinen Platz finden würde, nichts los war. Obwohl die Menschen inzwischen in die Restaurants dürfen, halten sich die meisten offensichtlich noch zurück. So genossen wir in gespenstischer Leere unsere Pfannkuchen und verabschiedeten uns von der spanischen Freiwilligen, die in zwei Wochen ihren Rückflug antreten wird.
Sonntag fuhren wir dann mit zwei deutschen Freiwilligen in die Universitätsstadt Tartu. Wir waren hier schon einige Male, doch so leer hatten auch wir die Stadt noch nie gesehen. Bei strahlendem Sonnenschein und knapp unter 20 Grad wanderten wir durch die Straßen und den botanischen Garten, bevor wir uns im Café Werner (in einem meiner vorherigen Blogs bereits lobend erwähnt) einen Kuchen genehmigten. Dort trafen wir lustigerweise zwei andere Freiwillige, die aus Voru angereist waren und unterhielten uns auch ein wenig mit ihnen. An einem Tisch dürfen zwar nur Personen aus höchstens zwei Haushalten sitzen, da es aber auch hier sehr leer war, fanden wir natürlich zwei Tische nebeneinander, sodass wir uns durch etwas lauteres Sprechen problemlos verständigen konnten. Bei diesem Gespräch kamen wir auf die Idee, dass wir doch auch mal Voru besuchen könnten, was wir direkt das folgende Wochenende auch taten. Voru liegt mit dem Bus knapp anderthalb Stunden von Tartu entfernt und ist für seinen großen See bekannt. Die Freiwilligen, die wir dort besuchten, leben in einer Wohnung mit direktem Blick auf den See, sodass selbst das Aufwachen am Sonntagmorgen zum Erlebnis wurde. Samstag waren wir bei warmen Wetter um die 20 Grad die ganze Zeit draußen in der Stadt oder am See unterwegs, bevor wir uns abends in die Strandbar mit Live-Dj setzten. Einen Besuch in der keinen Stadt mit seinen 12.000 Einwohnern (was für Estland eigentlich schon ziemlich groß ist), würde ich jedem, der ein bisschen Zeit mitbringt, jedenfalls wärmstens empfehlen.
Für drei Tage Anfang Juni hat uns dann noch eine deutsche Freiwillige in Tapa besucht, deren Freiwilligendienst schon geendet hat und die noch ein wenig in Estland herumreisen möchte. Mit ihr unternahmen wir einen Tagesausflug in das schöne Rummu, ungefähr anderthalb Stunden von Tallinn entfernt. In Rummu steht ein ehemaliges Gefängnis, welches seit Jahren nicht mehr in Betrieb ist und von dem ein Teil, durch den gestiegenen Wasserspiegel, inzwischen unter Wasser liegt. Das Wasser ist unglaublich klar und so ließen wir es uns nicht nehmen, auch eine kurze Runde schwimmen zu gehen. Trotz 22 Grad Lufttemperatur war es eisig kalt und wir schwammen nur einmal zum Gefängnis und wieder zurück, aber können nun jedenfalls behaupten, auch einmal in Estland schwimmen gewesen zu sein.
Bei der Arbeit bricht nun unser letzter Monat an, da wir durch die Coronakrise viele Reisen nicht antreten konnten und sich somit rund 15 Urlaubstage angespart haben. Diese, haben wir nun entschieden, nehmen wir von Mitte Juli bis Ende Juli, sodass bereits der 10. Juli unser letzter Arbeitstag werden wird. Geplant haben meine Mitbewohnerin und ich dann noch gemeinsam mit einem anderen Freiwilligen einen kleinen Roadtrip durch Estland und den Besuch der größten estnischen Insel, Saaremaa. Da Flüge buchen immer noch etwas schwierig und unsicher ist, wissen wir noch nicht genau, wann wir den Rückflug antreten werden, haben uns nun aber als spätesten Termin auf den 31. Juli geeinigt. Es ist seltsam, dass sich dieses Jahr nun wirklich dem Ende zuneigt und so wirklich realisieren können, werde ich es vermutlich noch nicht einmal, wenn ich im Flugzeug sitze. Trotzdem freue ich mich auf die letzten Wochen in Estland, aus denen ich, hoffentlich bei Sonnenschein und warmen Temperaturen, das Beste zu machen versuche.