Ein Tag in Newcastle
Ein angenehmer Besuch in Edinburgh, um Gleichgesinnte zu treffen und das Großstadtleben zu genießen, essenstechnischen Herausforderungen begegnen und eine Tour nach Newcastle durchführen – Johannsen tut wirklich alles, damit ihm nicht allzu langweilig wird auf der einsam gelegenen Farm im County Durham.
Guten Abend! Heute war ich wieder auf einer meiner Samstag-in-Newcastle-wieso-machen-diese-verdammten-Geschäfte-schon-um-fünf-Uhr-zu-Tour. An sich nichts Außergewöhnliches, aber jemand, der Absätze über Käse schreibt, holt natürlich auch da wieder eine Neudefinition von Epik raus. Außerdem hat sich wieder Einiges angesammelt, das sollte nicht verloren gehen.
Wie immer bin ich viel zu spät losgekommen. Wenn man über eine Stunde bis nach Monument im Zentrum braucht und die Bürgersteige um fünf Uhr bereits wieder hochgeklappt werden, muss man wirklich früh aufstehen. Und ihr wisst, wer genau das hasst. Vor allem am Wochenende. So bin ich halb elf mit den obligatorischen leichten Kopfschmerzen von zu wenig Schlaf über den Hügel nach Easington marschiert, habe meine Schuhe etwas weiter im Marsch ruiniert und dann, super, ein Bus voller Charver (ich finde dieses Wort soviel besser als unser „Prolls“). Man hat das Gefühl, die Jungs werden hier mit einer Goldkette um den Hals geboren.
Symbolik am Samstag
Soviel zu machen und so wenig Zeit; die Samstage sind die Verkörperung meiner Zeit in diesem Land. Eigentlich wollte ich ja in die Biscuit Factory, wo eine Pop-Art Ausstellung zu sehen ist. Zumindest war sie das vor einigen Wochen, denn natürlich bin ich nicht dazu gekommen, sie früher zu besuchen.
Dann ist mir vor einigen Tagen das Kinoprogramm des Tyneside Cinemas in die Hände gefallen, was die örtliche Adresse für anspruchsvolle Filme ist, vielleicht vergleichbar mit dem LiWu in Rostock (nur größer, wie ich feststellen sollte). Eine Unmenge an spannend wirkenden Streifen und ich konnte nur einen sehen! Damit aber noch lange nicht genug. Ins Baltic, der größten Galerie der Stadt, wollte ich schon seit Monaten, und nie habe ich es geschafft. Außerdem entdeckte ich auch noch ein zweites kleines feines Kino, das Side, was ich gern besuchen würde. Und das ist nur Newcastle, außerdem ich habe ein großes Verlangen, mal wieder nach Durham zu fahren.
Dazu müsste ich Englisch- und Französischtexte schreiben, Briefe beantworten und vor allem endlich mal wieder mein Bad schrubben. Apropos, ich lebe zurzeit ohne eigene Dusche, da bei meiner die Dichtungen nicht wirklich effektiv arbeiten. So muss ich Pauls Bad benutzen, was nicht ganz so toll ist, weil er das ungern teilt.
Ach ja, und wenn ich mit allem fertig bin will ich ja auch noch etwas am Wochenende arbeiten, um verreisen zu können.
Gut, ich könnte am Sonnabend zu Hause bleiben und etwas davon abarbeiten. Aber dann würde ich von Du-bist-nur-arbeiten-und-schlafen-und-arbeiten-und-schlafen-Depressionen gevierteilt werden, während die Wände bedrohlich dicht rückten und die Decke hart auf meinen Kopf fiele.
Ein einziges Dilemma. Wir sollten wirklich einen zweiten Freiwilligen haben, der meine Arbeiten erledigt und mir nebenbei Gesellschaft leistet. Ich würde ihn sogar in meinem Schrank wohnen lassen. Ohne ihn habe ich meine altbewährte Taktik angewandt, mich in einen Bus gesetzt und bin vor Pflichten und Problemen weggerannt. Die Überlandfahrt durch den aufmunternden englischen Nebel wurde mir zum Glück von den Zutons versüßt, deren Album mir, nebenbei gesagt, jedes Mal besser gefällt.
Stadtmusikanten
Als ich kurz nach eins auf Monument ankam, brach aber langsam ein fremder Rhythmus durch meine Kopfhörer. Aus der Metrostation gekommen sah ich mich dann einem kompletten Trommelorchester gegenüber und zum Glück waren das nicht die gewohnten peruanischen Terrortrommler mit einer weiteren garantiert traditionellen Panflötenversion von ABBA. Stattdessen hatten meine Freunde von der Weltverbesserer-Fraktion ein kleines Tsunami-Hilfskonzert organisiert und füllten den gesamten Platz mit einem sehr tanzbaren Klangteppich. Eine wirklich nette Überraschung, wo ich gerade noch der Atmosphäre von Edinburgh genau eine Woche zuvor hinterher trauerte.
Ich bin erst einmal zur Laing Art Gallery gewandert, um mich mit der neuesten Ausgabe des Stadtmagazins zu versorgen. Im Laufe des Tages sollte ich noch einige Male den alten Fehler begehen und Hefte einstecken, die nur mein Zimmer weiter verwahrlosen lassen werden, anstatt gelesen zu werden. Kaum bin ich aber fünfzig Meter von der großen Säule weg, umfängt mich schon wieder ein neuer Takt und siehe da, auch auf der Northumberland Street steht ein Ensemble, diesmal aus Kindern, und auch hier fragte ich mich, wie so unmotiviert dreinschauende Menschen so eine mitreißende Musik produzieren können.
Der Basar von Newcastle
Könnt Ihr Euch noch an den Deli erinnern, der mich so begeistert hat? Heute bin ich mit Pauls Hinweisen bewaffnet auf die Suche nach einem in Newcastle gegangen. Der Platz war Grainger Market und komfortabel direkt am Monument gelegen. Dabei handelt es sich um eine Markthalle, in der ein wüstes Sammelsurium der obskursten Läden eine letzte sichere Bastion des Einzelhandels bildet. Sicher wegen der Atmosphäre, die kein ASDA und kein Tesco jemals erreichen wird. Vor allem die Besucher sind eine sehr interessante Mischung. Für diese Plätze, mir bis jetzt vor allem aus Urlauben in guter Erinnerung, wurde der Name Basar erfunden und durch einen solchen schlenderte ich jetzt, staunend wie ich ihn bisher übersehen konnte. Eigentlich wollte ich ja nur Käse, aber an den Gemüseständen konnte ich mit Blick auf ein ansprechendes Dinner nicht vorbei. Noch beschränke ich mich mit dem Kochen nämlich auf Pflanzen.
Auch ein Laden, in dem man wie aus dem Bilderbuch aus Dutzenden von Töpfen diverse Dinge fischen konnte, fing mich ob der lange gesuchten Feigen ein. Happs. Das war die letzte. Verdammt. Ganz am Ende entdeckte ich dann auch meine Käsetheke. Sie war nicht so stilvoll wie der kleine Eckladen in Edinburgh, aber natürlich habe ich etwas mitgenommen. Leider gab es keinen Comté. Und leider waren sie ganz auf Käse spezialisiert, so dass ich kein vernünftiges Brot gekriegt habe.
Daneben gibt es dort auch eine ganze Reihe Cafés, von schäbigen Imbissbuden bis zu sehr teuer aussehenden Läden, in die ich mich wegen der fortschreitenden Zeit dann aber nicht gesetzt habe. Gerade als ich mich mit Grainger Market fertig glaubte, sah ich durch ein Tor auf der anderen Straßenseite eine Halle mit der Überschrift „Green Market“. Hurra, noch ein Basar! Nicht ganz so schick wie Grainger, aber auch mit seinem Reiz. Die Ecke wird meinem Vater gefallen, vor allem wegen der vielen Fleischer. Es war auch gar nicht mal so teuer; die Petersilie wurde mir sogar geschenkt. Dadurch habe ich mindestens fünf Pence gespart.
Ich heiße superfantastisch!
Mit einem finanziell guten Gewissen bin ich dann zum nächsten HMV spaziert und nenne jetzt das Album von Franz Ferdinand mein Eigen. Das war die erste Ausgabe von meiner Guthabenkarte, welche mir die Tointons zu Weihnachten geschenkt haben. Leider gaben sie mir keinen Schülerrabatt auf das Album, weil es ein Sonderangebot war. Offensichtlich müssen sie nach dem Fest ihre Lager leer kriegen, denn auf jedem zweiten Tonträger prangte ein gelber Aufkleber. Kaum zu glauben, sie verramschen sogar Radiohead für sieben Pfund. Was mich nicht ärgert, da das Herzstück meiner Musiksammlung, „Ok Computer“, scheinbar seinem Ende entgegen geht. Zu schade, dass die „I might be wrong“-EP mit ihrer anbetungswürdigen Live-Version von „Spinning plates“ immer noch mit ihrem Wucherpreis versehen ist.
Auf zu Vera
Jetzt war es schon fast drei Uhr und Zeit zum Tyneside Cinema zu schlendern. Was für ein Schock, anders als zwei Stunden zuvor stand eine lange Schlange vor der Kasse! Wieso habe ich nicht gleich eine Karte gekauft?! Also anstehen. Netterweise hatte man die erfreuliche Aussicht auf eine lebensgroße Audrey Tautou (Amélie) auf einem Poster für „A very long engagement“, was ich mir im Übrigen auf jeden Fall auch anschauen werde. Außerdem könnte ich schwören, diese Deutsche, die uns zu Silvester ein Stück des Wegs zu Jills Haus begleitet hatte, gesehen zu haben. Wie ich schon damals schrieb, unheimlich...
Mein erster eigener Kinobesuch führte mich übrigens in „Vera Drake“, einen aus meiner Sicht sehr empfehlenswerten Streifen. Erzählt wird die Geschichte einer recht normalen Frau im London von 1950, die illegale Abtreibungen praktiziert. Dazu wird das Arbeitermilieu der Zeit sehr detailliert gezeigt, von daher sollte man sich nicht in diesen Film setzen, wenn man eine Aufmunterung braucht. Aber, was mir ja immer sehr gefällt, er ist konsequent ohne nihilistisch zu werden und in zwei Stunden nicht langweilig. Es ist auch nicht sozialkritisch (wie hasse ich Werke mit Zeigefinger), sondern hat sehr viele lustige Momente, wenn die moralischen Konventionen der Zeit in eine Sackgasse geführt werden. Außerdem war mir der hier gewährte Schülerrabatt sehr sympathisch.
Fazit am Feierabend
Jedes Mal blutet einem das Herz, wenn man um halb sechs nichts anderes mehr tun kann, als sich in die Metro zurück zum Busbahnhof in Sunderland zu setzen. Wobei man jetzt keinen falschen Eindruck von der Stadt bekommen sollte. Natürlich haben noch viele Bars, Pubs und Cafés auf, mal ganz abgesehen von den Clubs am Samstag; allein, ohne ein Quartier in der Stadt bringt einem jegliches Angebot am Abend wenig. Ursprünglich wollte ich ja die Führung durchs Baltic um drei Uhr mitmachen und mir Vera Drake um fünf Uhr ansehen. Aber da ich dann zurück zur Farm einen Umweg über Peterlee hätte machen müssen und Zweifel an der zeitlichen Machbarkeit des Ganzen hatte, bin ich lieber früher in den Film und danach direkt nach Hause gegangen. Immerhin kenne ich jetzt ein gutes Kino und zusammen mit den Märkten ist Newcastle um Einiges interessanter geworden. Wirklich, dass war ein sehr schöner Tag, nachdem mir die Stadt in letzter Zeit etwas öde vorgekommen ist.
Von Gemüse und Klebstoff: Essen in England
Abends konnte ich dann wieder etwas Kochen üben. Diesmal habe ich meine bisherigen Versuchsgerichte kombiniert und eine Gemüsepfanne mit Kartoffeln gemacht. Dazu meine White Sauce, verfeinert mit frischer Petersilie. Das hat eine wirklich sehr, sehr gute Mahlzeit ergeben und mich den Käse auf morgen verschieben lassen.
Ich glaube, die fehlende Zutat für das Gemüse gefunden zu haben. Bis jetzt war es nämlich immer etwas langweilig und nicht so gut wie Claudias Pfanne, doch seit gestern bin ich im Besitz einer Flasche Sojasauce und die scheint den Ausschlag zu geben. Mein Küchenregal füllt sich langsam; neben Brown Sauce habe ich jetzt auch Mehl, Zucker, Salz, Thymian, Rosmarin, Zimt und eine Flasche Olivenöl da. Nur über Essig muss ich noch nachdenken.
Außerdem habe ich mir ein Glas Honig gekauft, um damit mein Porridge zu verfeinern. Das hat sich nämlich als voller Erfolg heraus gestellt, auch wenn es wirklich nicht mehr ist als Haferflockenbrei. Aber es ist sehr schön, jeden Morgen etwas Warmes zu essen zu haben, zumal es wirklich einfach zuzubereiten ist. Paul isst jetzt auch mit, und wenn wir morgens mit unserer Schälchen vor dem Kochtopf stehen, komme ich mir vor wie im Seniorenheim. Allerdings macht das Zeug den Abwasch zur Hölle. Paul meinte, man hätte es früher als Klebstoff benutzt und in der Tat bekommt man es nicht einmal nach zwei Stunden Einweichen losgelöst.
Was sonst noch geschah
Nach den letzten Einträgen hat sich die Arbeitssituation wieder normalisiert; die Sturmschäden wurden größtenteils beseitigt und die frühen Feierabende setzen erneut ein. Meine ewige, bleierne Nachmittagsmüdigkeit verhindert aber trotzdem konstruktives Abarbeiten der anfangs angeführten Aufgaben. Morgen werde ich wieder nicht vor Mittag aus dem Bett kommen und abends wahrscheinlich nicht einmal die Englischübung fertig haben.
Wenigstens bietet der Montag eine nette Aussicht, da Paul auf einem Treffen und ich deshalb im College bin. Ich hoffe nur, Joanna ist wieder da, letzten Mittwoch habe ich nämlich allein gesessen und wieder nur Sachen gemacht, für die ich nicht in den Kurs hätte kommen brauchen. Dafür haben wir eine sehr interessante neue Türkin, Hanni, die gerade ein Jahr in Norwegen und davor einige Zeit in Frankreich verbracht hat. Ihre Familie lebt desweiteren in Deutschland, auch wenn sie in der Türkei aufgewachsen ist und am Deutschlernen verzweifelt ist. Ach ja, und Debby zieht in zwei Wochen um, vielleicht werd ich ihr dabei helfen.
Und zuletzt...
Auch heute habe ich wieder etwas in den Schriften der YouthReporter Seite gestöbert und einige nette Sachen gefunden. Dabei sind mir vor allem zwei Artikel von EVSlerinnen aus England ins Auge gefallen. Nicht nur das gemeinsame Gastland, auch die Erfahrungen sind so ähnlich, dass ich sie noch einmal kurz angehen möchte.
Offenbar ist die Erfahrung dieser Multinationalität einer der stärksten Impulse für fast alle Freiwilligen. Was ich lese, ähnelt meinen Gedanken nicht nur, es nimmt mir die Worte fast aus dem Mund. In „Mehr als Fish and Chips...“ von Christina lese man sich nur die Zeilen über die gemeinsamen Abende durch, nichts anderes hat mir auf den Trainings und in Edinburgh am meisten gefallen. Die Intensität des kulturellen Austausches ist wirklich kaum zu übertreffen, dass trifft den Nagel auf den Kopf. Auch wenn ich hier keine Kollegen habe und keine Sorgen beim Herkommen hatte. Aber selbst sie schreibt am Ende, dass sie zurück „musste“. Was Svena Wittpoth in „Europa in einem Land“ formuliert, ist beinahe identisch. Sie nennt die Erfahrung der vielen Kulturen nicht nett oder interessant; es hat sie begeistert und genau das tut es tatsächlich.
Die Größe dieser Erfahrung reißt einen mit sich. Ich kann mich noch so gut an diesen Kontrapunkt in Manchester erinnern, wie ich mit Katerina und Melis in einem Pub saß und auf einmal nur noch diesen einen klaren Gedanken hatte, wie einmalig alles ist. Ja, wenn es nur möglich wäre, auch ich würde mein EVS wiederholen. Auch wenn es mich umbringen würde, müsste ich kurz vor dem Ende zusehen, wie neue Leute herkommen und hier bleiben dürfen.