Ein anderer Reisebericht
inspiriert von den afrikanischen Flüchtlingen in St. Pauli
Die Grenze überwand ich auf dem Meer. In einem kleinen Boot, voller Menschen. Kein Platz sich zu bewegen, voller Angst ausharrend. Ob wir das Land erreichen würden war nicht klar. Zwei Tage ohne Wasser und doch überall von Wasser umgeben. Salz in der Luft und in den Lungen.
Das Boot neben uns versank in den Fluten. Ich wusste nicht ob ich hoffen oder fürchten sollte, dass manche überleben würden. Zu groß die Angst vorm Kentern. Noch mehr Menschen, die die alten Planken nicht aushalten konnten.
Zwei Tage kamen mir vor wie ein ganzes Leben. Dann das Kreischen der Möwen. Die Hoffnung, die Freude auf Rettung. Italien, Europa!
Der fremde Kontinent kam mir vor wie ein unerreichbarer Traum nach der Angst vor Folter, Gefangenschaft und qualvollem Tod. Falsche Spione in einem irrwitzigen Krieg.
Wir kehrten alldem den Rücken, um in Lampedusa zu landen. Der Boden unter meinen Füßen wackelte, als wäre ich auf dem Meer, nicht umgekehrt.
Das Lager war voller Menschenmassen. Man konnte sie nicht zählen, nicht schätzen. Der Dreck, die Luft waren unbeschreiblich. Ich fragte mich, ob zu Hause bleiben nicht besser gewesen wäre.
Drei Monate blieb ich dort. Kaum Essen, zu wenig Wasser. In der Hitze tummelten sich die Fliegen. Der Geruch war mir bald vertraut. Der Stacheldrahtzaun, das neue Gefängnis. Es erschien soviel schlimmer als ein dunkles Loch, weil frei über mir der Himmel schien. Die Zelte reichten nicht. Ich schlief oft draußen. Starrte hoch in den Sternenhimmel und fragte mich, ob es auch ein Weiterkommen gab. Oder ob ich hier für immer warten müsse, bis zu meinem Tode. Für viele wurde es die Wirklichkeit. Zu krank, zu alt, zu jung. So viele wie starben, kamen jeden Tag an. Und mehr. Die Zahl der Menschen wuchs. Fast war ich froh, dass meine Familie zurück geblieben ist. Was hätte meine kleine Tochter hier wohl gemacht? Mit den andern Kindern gespielt? Wäre sie krank geworden oder wäre sie in den Fluten ertrunken?
Aus dem Nichts kam die Botschaft, in fremder Sprache, das Lager wird geschlossen.
Sofort. Die Ungewissheit wurde aufgeschoben. Das Visum in meinem Pass hatte ein Datum, das noch in weiter Ferne lag. Die Freude war übergroß. Freiheit! So plötzlich und unerwartet, dass die meisten von uns gar nicht wussten, was sie nun damit anfangen sollten.
Ich entschloss mich nach Norden zu gehen. Noch mal aufs Schiff, diesmal auf ein sicheres. Nach Deutschland, nach Hamburg. Eine Hafenstadt, mit Arbeit und stabiler Wirtschaft. Eine gute Idee, so erschien es mir. Immerhin war ich einmal Industriekaufmann. In einem früheren Leben. Ich konnte arbeiten und wollte es auch. Ich war nicht alleine. Dreihundert weitere reisten mit. Aber das erfuhr ich erst später. Die knapp zwanzig, die gleichzeitig mit mir reisten, waren Vertraute und Bekannte, denen ich von meiner Idee erzählt oder die mich auf die Idee gebracht hatten. Die Unbeschwertheit und die Hoffnung auf Neues ließen die Überfahrt wirken wie einen Ausflug. Dass wir arm waren und hungerten störte uns wenig. Bald würden unsere Taschen wieder voll sein und unsere Familien würden endlich die Hilfe von uns bekommen, auf die wir gehofft hatten.
Ich weiß noch, der Tag war grau in Hamburg, als das Schiff anlegte. Hinterher muss ich mich fragen, was wir erwartet hatten. Sicher nicht das. Diese unglaubliche Gleichgültigkeit mit der wir bedacht wurden. Das sachliche Behandeln von uns, als wären wir ein Fremdkörper in einer Maschine. Wie eine störende Fliege, die man im Vorbeigehen mit der Hand verscheucht.
Doch wir waren hartnäckiger. Wo sollten wir denn hin? Zurück nach Italien, oder Libyen, oder, im meinem Fall, Nigeria?
Keiner dieser Orte konnte ich mehr zu Hause nennen. Hamburg aber auch nicht. In St. Pauli landeten wir schließlich in einem Park. Wir wussten nicht mehr weiter. Mit ein paar Teppichfetzen ließen wir uns nieder und versuchten mit der neuen Freiheit umzugehen. Nicht einmal weit weg von der Reeperbahn. Nicht gerade der beste Ort für einen strengen Muslim. Aber zum weiter gehen fehlte mir die Kraft. Nach all dieser Enttäuschung und Quälerei keine Arbeit in Sicht. Nein, schlimmer: Keine Erlaubnis zum Arbeiten! Und nicht einmal ein gutmütiges Dulden. Nicht einmal hier in diesem Park. Auf Obdachlose werden Strafzettel verteilt wie auf Autos.
Der Hamburger Regen setzte ein. Wie betäubt saßen wir im Grünen und ließen alles über uns ergehen: Die Zeit, den Regen, die Ungerechtigkeit.
Dann sprach uns ein Fremder an, einfach so. Als wären wir Menschen. Auf Englisch kamen wir weiter. Meine Sprache, zumindest da wo einmal mein zu Hause war.
Der Pfarrer der nahe gelegenen Kirche stand vor uns und bot uns ein Dach über dem Kopf.
In seiner Kirche. Ob der andere Gott mit dem meinen auskommen würde? Immerhin gibt es nur jenen einen. Die Christen wissen dies zumindest, das muss man ihnen anerkennen.
Ich würde also unter SEINEM Dach schlafen. Es konnte mich schlimmer treffen. Es hatte mich schon schlimmer getroffen.
Dankend nahmen wir an und schlugen unser Lager in der Kirche auf. Ein besseres Lager, als in Lampedusa, aber dennoch ein Lager. Kein zu Hause. Für eine Nacht würde es genügen. Doch aus der Nacht wurden viele Nächte. Auch jetzt liege ich wieder wach und grübele. Denke nach bis zu meinem Weg nach St. Pauli. An die Menschen, die nach und nach zu uns kamen und uns von ihrem Essen gaben. Die etwas zum Anziehen und zum Schlafen brachten. Die Deutschlehrer, die uns jeden Tag etwas mehr von der fremden Sprache beibringen. Aber auch an die Anderen, die nach uns kamen. Bis die Kirche voll war und so viele keinen Ausweg mehr wussten. Die meisten kamen jetzt doch irgendwo unter, bei Familien oder anderen Kirchen. Dennoch, trotz all der Wärme dieser Menschen hier, die uns nun doch wieder Hoffnung gegeben hat: Wir bleiben in diesem unerträglichen Schwebezustand, den nur jene interessiert, die nur kleine Dinge bewegen können. Und egal wie viele Medien über uns berichten, wie viele Texte über uns geschrieben werden. Es ändert sich nichts an unserer Lage. Oder doch?