Die Verwandlung
Über einen Schritt, der viel Mut kostet, Perücken und anderen haarigen Angelegenheiten.
Ich wusste es. Ich wusste, dass es jeder wusste, und wusste auch, dass ich oft danach gefragt wurde, aber ich konnte mich nichts anderen als hilflosen Blicken antworten, weil das Thema "Wie erkläre ich meine Autoimmunerkrankung" noch nicht in meinem Türkischbuch vorkam.
Denn eigentlich habe ich in all den Jahren, in denen ich mit meiner Krankheit Alopecia Areata lebe, gelernt, offenen damit umzugehen, und einfach darüber zu sprechen. Das ist nicht leicht gewesen, in einer Gesellschaft mit Gesundheitskult, in dem jeder perfekt aussehen will und sich ungenießbare Smoothies mit Spinat und Sauerampfer mixt. Gesundheit ist ein Produkt geworden, ein Lifestil den wir uns erkaufen können, und damit wird Krankheit zum Makel, als würde man sich nur nicht genug um seine Healthiness bemühen.
Aber manche Krankeiten lassen sich auch nicht prävenieren, vor allem nicht Autoimmunerkrankheiten: Mein eigener Körper wendet sich gegen mich, und diese Anarchie kennt weder Grund noch Heilmittel. Mein Immunsystem greift meine Haarwurzeln an, die Versorgung der Haarwurzeln wird gekappt, und es kommt zu flächendeckenden Haarausfall. Es tut nicht weh, weh tut nur, zugucken zu müssen, wie sich Haar in der Bürste sammelt, auf dem Fußboden, auf meinem Kopfkissen. Es ist auch nicht weiter bedrohlich für meine Gesundheit, nur für meine Psyche, mein Selbstbewusstsein, mein Selbstbild.
Und genau deshalb muss ich darüber reden. Denn wenn ich darüber schweige, frisst sich das in mein Herz, dann dreht sich in mir alles nur noch um die Alopezie, dann werde ich zu meiner Krankheit. Das wäre das schlimmste, was mir passieren kann: Mich selbst zu verlieren. Vielleicht war das die größte Herausforderung für mich im letzen halben Jahr, aber auch die schönste Erkenntnis, die ich gewinnen konnte: Ich war blond, brünett, mit Pony, mit Locken, langem Haar oder Kurzhaarschnitt doch immer noch ich, immer Lucy.
Und jetzt fühle ich mich ganz nackt, mein dünnes, zartes Haar versteckt mich nicht mehr so gut wie die Perücken, aber die Menschen hier geben mir auch das Gefühl, dass dieses Versteck nicht länger nötig ist. Als ich heute morgen in der Küche mit "Cok güzel!", also "Sehr hübsch", empfangen wurde, musste ich dann doch ein paar Tränchen unterdrücken. Denn so leicht fällt mir das nicht, mir meine Verwundbarkeit einzugehen.
Und jetzt gibt es keinen Weg zurück, ich werde keine Perücke mehr tragen! Und mit diesem Schritt habe ich die Autonomie zurückerlang,und meiner Krankheit den Wind aus den Segel genommen.
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