Die Schuhe der Frau Petrescu
Es geht um die Höhen und Tiefen des Freiwilligendienstes, um die persönliche Entwicklung, die das ist, was den EFD letztendlich ausmacht. Oftmals sind es vor allen die kleinen Dinge, an die man sich später zurückerinnert. All die kleinen Puzzleteile, die sich zu einer Zeit zusammenfügen, der zwischen netter Erinnerung und lebensverändernder Gefühlsachterbahn alles sein kann. Und dafür sind die schlechten Zeiten genauso wichtig wie die guten.
Aus dem stickigen Bus wurde sie auf die nächtlich erleuchtete Hauptstraße entlassen. Kalter Winterwind rötete ihr Gesicht. Hinter ihr lagen die schneebedeckten Gipfel der Kapaten- vor ihr lag ein halbstündiger Fußmarsch über von Schlaglöchern übersäte Bürgersteige, auf denen sie ständig Straßenhunden oder ihren Hinterlassenschaften ausweichen musste, während in Millimeterabständen Dacias aller Modelle mit lebensgefährlichen Geschwindigkeiten über die zum letzten mal unter Ceaucescu neu geteerten Straßen rasten. Die Abgase veralteter Dieselmotoren legten sich wie eine eine zweite Haut um ihren Körper. Sie atmete tief ein, verzog das Gesicht und machte sich auf den Weg.
Ihr Abenteuer hatte im Juli begonnen. Die wenigen Informationen, die Wikipedia über die Industriestadt Râmnicu Vâlcea im südlichen Rumänien zu bieten hatte, klangen nett, ansprechend. Niemand, den sie kannte, hatte je von diesem Ort gehört, oder auch nur den östlichsten EU-Mitgliedsstaat jemals besucht. Ratschläge wie „Also, wenn das wie in Bulgarien ist, dann...“ oder „Ein Freund von mir war mal in Ungarn...“ verstärkten ihre Motivation und Vorfreude noch zusätzlich. Das war ihr eigenes Abenteuer, sie würde zu unbekannten Ufern aufbrechen, eine Sprache lernen, die sie für immer mit ihrem Gastland verbinden würde, sie würde das Leben der Menschen in Rumänien verändern und Freunde fürs Leben finden.
Der Papierkram war erstaunlich schnell erledigt. Eine einzige Bewerbung sicherte ihr einen Platz als Europäische Freiwillige in einer Gruppe von 15 internationalen jungen Menschen zwischen 18 und 30 Jahren, die gemeinsam das Umweltbewusstsein der Rumänen in und um die Hauptstadt der Region Vâlcea stärken sollten. Die ortsansässige Entsendeorganisation briefte sie so gut sie konnte, schenkte ihr Luftballons mit der EU-Flagge und ließ sie ziehen.
Kaum drei Flugstunden, eine Nacht in der Hauptstadt Bukarest und schließlich eine dreistündige Busfahrt hatten sie vor einen halben Jahr zum ersten Mal zu diesem Ort geführt. Mit einem Lächeln im Gesicht hatte sie die Wohnung in einem der sich bis zum Horizont streckenden Häuserblocks betreten, an einem sonnigen Tag und mit naivem Blick hatte die Stadt fast schön gewirkt. Nach einem Rundgang über den Marktplatz und am Justizpalast vorbei, hatte ihr Projektkoordinator sie alle zum Essen eingeladen, anschließend erfuhr sie nach einer ausgiebigen Verkostung der lokalen Bier- und Weinsorten alles über ihre Mitfreiwilligen, von denen drei gleichzeitig ihre Mitbewohner wurden.
Die folgenden Wochen sollten die aufregendsten ihres bisherigen Lebens werden. Gemeinsam fuhren sie durchs Land, lernten auf Seminaren andere Freiwillige kennen, die nach fünf Tagen die besten Freunde wurden, rumänische Festivals, neue Bekanntschaften, jede Menge Bier und Wein und die fantastischen Vorteile der rumänischen Hitchhiking-Kultur. Sprachunterricht und Arbeit im Projekt wurden erst einmal hinten angestellt- wie sich herausstellte, sah die Aufnahmeorganisation das Ganze auch nicht besonders eng.
Aber irgendwann legte sich der Sturm. Nach drei Monaten kannten sie alle Bars in der Stadt, hatten von frühester Kindheit bis zur letzten eingenommenen Mahlzeit des Tages jeden Augenblick ihres Lebens miteinander geteilt, die gegenseitigen Macken entdeckt und statt Nachsicht zum ersten Mal Wut über das nächtliche Gepolter der rücksichtslosen Zimmernachbarin gespürt. Gemeinsame Kochabende wurden die Seltenheit, aus 15 wurden vier und fünf und drei, man ging seiner Wege, das Bier schmeckte Schal, die Welpen des Sommers waren zu knurrenden Straßenhunden geworden und auf dem Straßenmarkt gab es nur noch Kohl zu kaufen.
Über Youth in Action fand sie europäische Workcamps und fuhr mit Genehmigung ihres Projektkoordinators raus auf dem Grau zunächst nach Tschechien und schließlich nach Italien. Noch zweimal durfte sie auf diese Weise den Anfangsflair erleben, allerdings ohne böses Erwachen: In zwei Wochen lernte man sich dafür einfach nicht genug kennen, außerdem war die gemeinsame körperliche Arbeit ein erstaunliches Bindemittel für die Gruppen zwischen neun und 20 Freiwilligen.
Die Winterferien hatten sie alle für Reisen genutzt, zunächst gemeinsam, dann in kleineren Gruppen, schließlich hatte sie allein mit einer Freundin Silvester in Tschechien gefeiert. Nach einem Zwischenstopp in der Transsilvanischen Stadt Cluj war sie schließlich wieder im winterlichen Vâlcea angekommen, ihrer Stadt, die sie mit all ihrem Dreck und Gestank begrüßte, der mit seinen Händen an ihr zerrte und jeden ihrer Schritte zu behindern suchte. Grau in Grau ragten die Häuserblocks vor ihr in den schwarzen Himmel, das einzig bunte Licht ging vom örtlichen McDonald's aus, der perspektivlosen Jugendlichen Ablenkung bot und sie mit Verfettung vor der Alkoholfalle bewahrte.
Solche und ähnlich klischeebelastete Boshaftigkeiten gingen ihr durch den Kopf, während sie leise fluchend den schweren Rucksack durch die Straßen schleppte.
Die Straße war gesäumt von kleinen Läden, in denen Grabschmuck oder -steine angeboten wurden. Inmitten all dieser mit bunten Plastikblumen vollgestopfter Geschäfte lag das Lokal „Paradis“ wie ein Versprechen. Jedes Mal, wenn sie an dieser Straße entlang ging, musste sie darüber lachen.
Ein Taxi hielt neben ihr und sie willigte ein, sich bis zur Philharmonie in der Nähe ihrer Wohnung mitnehmen zu lassen. Der Taxifahrer erzählte von der Schweinegrippe und fragte sie über ihre Herkunft, das Rumänisch kam ihr schon leichter über die Lippen und er lobte sie dafür.
Lächelnd stieg sie aus und bezahlte umgerechnet einen Euro für die zehnminütige Fahrt. Als sie die Straße überquerte, traf sie wie immer auf den türkischstämmigen Losverkäufer, der seinen Stand vor dem Supermarkt bezogen hatte. Wie immer grüßte er freundlich und nannte sie seine Schöne, wie er es bei jedem der Mädchen tat, sie erwiderte seinen Gruß auf türkisch, ihre Mitbewohnerinnen hatten ihr ein Grundvokabular inklusive aller wichtigen Schimpfwörter beigebracht, dann betrat sie den Supermarkt und kaufte den zuckersüßen rumänischen Apfelsaft und eine Packung dieser Maisflips, die sich im Mund sofort auflösen. „Bună seara“, ein paar Rumänische Lei an der Kasse, ein Lächeln von der Verkäuferin, die sie immer mit Kassenbons versorgt, wenn sie am Ende des Monats wieder einmal feststellen, dass sie die ganzen Rechnungen zu sammeln vergessen hatten.
Wieder hinaus in den Schnee, die Schuhe hielten ihre Füße warm. Sie hatte sie in einem der vielen Second-Hand-Läden der Stadt gekauft, gleich um die Ecke, bei Frau . Deren Tochter wohnte in der Wohnung nebenan, Frau Petrescu sprach ein wenig französisch und war immer sehr aufgeregt, wenn eins der Mädchen ihren Laden betrat, senkte sofort alle Preise und schenkte zu jedem Einkauf einen Schal oder eine scheußliche Brosche.
In der Wohnung empfing sie wie immer der bunte Kalender in der Küche, die Fotos an den Wänden und die Länderkarte: Eines Nachmittags hatten sie sich Bastelpapier, Scheren und Kleber besorgt und der unpersönlichen Wohnung den Kampf angesagt. Vom Küchenschrank blickten jetzt rumänische Sänger und Schauspielerinnen auf sie herab, die sie aus Zeitschriften ausgeschnitten hatten.
Als sie das Wohnzimmer betrat, wurde sie mit freudigen Ausrufen auf sechs Sprachen begrüßt; Pedro, der Spanier, küsste sie auf die Wangen, Gülnar, die Aserbaidschanerin, segnete sie auf arabisch und Asiye aus der Türkei bedachte sie mit einer freundlich lächelnden Beleidigung auf türkisch.
In einem Kreis saßen sie auf dem Boden, die Gläser wurden gefüllt und gelehrt, Geschichten wurden erzählt, und als sie aus dem Fenster auf den vermüllten Parkplatz hinter dem Haus blickte, wurde ihr klar, dass sie diese naive Begeisterung der Anfangszeit niemals wieder zurück bekommen würden. Und dass sie in ihrem ganzen Leben nicht einen Tag die Entscheidung für ihr eigenes rumänisches Abenteuer bereuen würde.
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