Die Natur einmal anders erleben!
Ich bin nun schon seit einiger Zeit wieder in Deutschland. Heute sah ich mir einige Fotos von meinem Aufenthalt in Finnland an. Mir fiel dabei eine Geschichte ein, die ich hier festhalten möchte. Es handelt sich um einen Kanu Ausflug, den ich zusammen mit einer Gruppe Jugendlicher gemacht habe. Es folgt also nun ein Nachtrag zu meinem Freiwilligendienst in Ostfinnland.
Die Finnen ”heittää talviturkki pois” (dt. werfen ihr Winterfell ab), d.h. zum erste Mal im Jahr im Fluss oder See Schwimmen. Ich bin auch schon in den Genuss gekommen, in den wunderschönen und klaren finnischen Seen meine Bahnen ziehen zu können, doch mein „Winterfell“ habe ich bereits Wochen zuvor verloren. Hier die Geschichte.
Die Sonne strahlt am hellblauen Himmel. Es ist Mitte Mai. Wir werden von einem Rudel aufgeregt umherspringender Huskys begrüßt als wir auf den Hof „Erästely“ fahren, der in den nächsten 2 Tagen unser Quartier ist. Als Jani sagte, wir übernachten in einer alten Schule, habe ich mir etwas völlig anderes vorgestellt. Dieser Ort schreit vor Nostalgie: knirschende Holzdielen, alte Kesselöfen und nur ein einziges kleines Klassenzimmer. Überall dieser hölzerne, ein wenig modrige Geruch. Eine alte Dorfschule wie aus Omas Geschichten. Direkt neben dem Fluss liegend, ist der Hof ideal für das neue Geschäft des Eigentümers geeignet. Im Sommer werden Kanu, Kajak und Ausrüstung an Outdoorbegeisterte aus aller Welt verliehen, im Winter können Abenteuerlustige auf einer Hundeschlittenfahrt die ostfinnische Natur in weiß genießen.
Kaum habe ich die Kanus ins Auge gefasst, geht es auch schon los. Trainieren für die große Fahrt am nächsten Tag. Der Einstieg, wenn auch etwas wacklig, ist geschafft! Ich sitze im vorderen Teil des Kanus, gebe den Takt an und halte nach großen Felsen nahe der Wasseroberfläche Ausschau. Im hinteren Teil sitzt einer der Jugendlichen, die sich für das Kanu-Camp angemeldet haben; er ist für das Steuern zuständig. Jetzt heißt es: sitzen bleiben bis wir wieder Lad unter den Füßen haben. Für ein paar Stunden im ruhigen Flussbett ist das kein Problem. Sorgen mache ich mir nur um den Steuermann, einen 13-Jährigen, schmal und blass. Auch er sieht besorgt drein als wir uns auf die große Reise begeben. Doch die ersten Stromschnellen meistern wir mit Bravour. Im offenen Gewässer wird gegen den starken Wind gepaddelt. Wir schwächeln ein wenig. Eine kleine Strömung am Rande des Ufers treibt uns wieder voran. Und dann sehen wir es! Große, reißende Stromschnellen! Sie sehen gefährlich aus. Bei diesem Anblick verlässt uns beide der Mut. Jani, mein Mentor, will davon nichts wissen. „Mehr Selbstbewusstsein!“ sind seine Worte. Der Junge schaut mich hilflos an. Auch er weiß es. Es passiert. Und dann geht’s auch schon los für uns. Auf auf in die reißenden Stromschnellen und Hops…ins Wasser! Während sich der Junge noch am Boot festhalten kann, hat mich der harte Aufprall des Kanus auf die Steine am Ufer ins Wasser geschmissen. Keine Chance das Kanu noch zu erreichen. Die Kälte des Wassers drückt gewaltig auf meinen Brustkorb. Ich zittere vor Kälte und Aufregung. Durch Weste und Helm passiert nichts Schlimmeres und ich treibe an der Oberfläche. Nun schnell raus bevor mich die Strömung mitreißt. Jetzt beginnt erst der schwierige Teil: Über die Felsen am Ufer bis hin zur Flussmündung klettern, wo die restlichen Kanus warten. Ein Kraftakt; nicht nur die nasse Kleidung erschwert den Gang; Bäume und sonstiges Gestrüpp scheinen nach mir zu greifen; am Ufer geht es nicht weiter. In Richtung der wartenden Kanus sehe ich Bertti, unseren Sicherheitsmann im Kajak. „Schwimm zu uns“ ruft er. Ok, eigentlich keine schlechte Idee, denn nass bin ich schon. Nachdem ich mich ins Wasser begeben und vielleicht 2 Schwimmzüge vorwärts getätigt habe, wird mir wieder die unbeschreibliche Kälte bewusst. Mein Atem stockt, ich drehe um. Das war wohl nichts. Bertti kommt mit Kajak entgegen der Strömung langsam auf mich zu. Er zeigt mir und den Jugendlichen, wie eine Rettung in einem solchen Fall vonstatten geht. Ich lege mich vorsichtig mit dem Oberkörper auf das Kajak, die Füße im Wasser. Ein Anblick, bei dem sich weder Jugendliche noch Betreuer das Schmunzeln verkneifen können. Auch ich hätte das zu gern gesehen, denn selbst mir fiel es schwer nicht laut loszulachen und somit das Kajak ins Wanken zu bringen. Eine neue Art des Transportes wurde mir zuteil, eine neue Erfahrung! Dann habe ich es endlich geschafft, ich sitze wieder im Kanu. Jetzt erst einmal Durchatmen und Ruhe bewahren.
Auf diese Weise habe ich also „mein Winterfell abgeworfen“. Zwar habe ich es nicht ganz freiwillig hergebe wollen, vielmehr hat es sich der Fluss einfach genommen, dennoch bin ich froh, diese Erfahrung gemacht zu haben. Für den Rest der Fahrt, ca. 5 Stunden, saß ich selbstbewusster als je zuvor im Kanu, denn viel mehr kann nicht passieren. Nun konnte ich mich allein auf die wunderschöne Umgebung konzentrieren. Es ist ein unglaubliches Gefühl mit dem Kanu über die schwarzen Seen Ostfinnlands zu paddeln. Und dann, ganz plötzlich, gleiten neben unseren Booten einige Schwäne still durchs Wasser. Der Anblick eines Schwarms weißer Singschwäne, die sich majestätisch aus dem Wasser erheben und über unsere Köpfe hinwegfliegen, erfüllt mich mit großer Freude. Ein einzigartiger Anblick, den ich so schnell nicht vergessen werde.
Wieder auf unserem Hof angekommen, von Hund und Wirt begrüßt, gibt es viel zu erzählen. Dann geht es in die verdiente und an diesem Abend besonders wohltuende Sauna. Alle bevorzugen, statt Würstchen und Marchmallows über dem Lagerfeuer, das Bett. Der Tag war anstrengend. 9 Stunden Kanufahrt lassen auch den wildesten Jugendlichen erschöpft in den Schlaf fallen. Dort lässt man sich dann ins Reich der Träume tragen; vielleicht von einem Kanu, denn die Wellen des Flusses sind an diesem Abend noch deutlich am Körper zu spüren.