Die fremde Heimat
Heimat ist meistens da, wo man herkommt, aber auch, wo man hingeht und wo man bleibt. Und Heimat bleibt – im Herzen und im Kopf. Ein Text darüber, wie die Fremde zum zuhause wird.
"Türkei" sage ich nochmal ins Telefon. Ein Scherz? Nein, kein Scherz. "Istanbul, genauer gesagt", antworte ich – ziemlich ungefragt – auf das Schweigen meiner Mutter. Terroristen, meint sie. Spanien oder Frankreich wären doch besser gewesen, allein schon wegen der Sprache. Und EU-Mitglied sei das Urlaubsland doch auch nicht grundlos nicht (vielleicht wegen besagter Terroristen?). Ich lache – aus Belustigung über die Sorgen meiner Mutter. Ein paar Monate später, mitten in der Nacht, irgendwo auf einem halb erleuchteten Busbahnhof: Ich lache, diesmal aus Verzweiflung. Es ist nicht das erste Mal, dass ich alleine im Ausland unterwegs bin, aber vielleicht das erste Mal, dass ich mich ziemlich verloren und verwirrt fühle.
Ich bin fremd hier.
Irgendwie hatte ich es geschafft, von Istanbul den Bus nach Izmir, Kocaeli zu finden. Im Stadtzentrum sollte ich aussteigen, dank meiner mangelnden Türkischkenntnisse lande ich am Busbahnhof, außerhalb der Stadt. Es ist Mitternacht und irgendjemand fragt mich, wo ich hin muss. Wo ich hin muss? Zu Murat. Gute Antwort, wenn man in der Türkei ist. Besagter Murat aber, mein Mitbewohner für die nächsten Wochen während meines Sprachkurses, ist nicht da, vielleicht wartet er auch im Stadtzentrum auf mich. Neugierig und belustigt schauen mir ein paar Türken dabei zu, wie ich – stark schwitzend und rot im Gesicht, es ist zwar mitten in der Nacht, aber auch Anfang August – einen Zettel hervorkrame. Eine Adresse steht drauf, und eine Telefonnummer. Ich drücke den Zettel einem der Männer in die Hand. Er guckt ratlos, was in der Türkei einem Hilfegesuch gleichkommt. Innerhalb von zwei Minuten streiten 15 Personen darum, wo diese Adresse ist und wie man dahin kommt.
Vielleicht streiten sie auch nicht, ich verstehe ja nix.
Dann sagt mir einer, ich soll ihm mein Handy geben. Ich denke, ja klar, netter Versuch und schüttel´ den Kopf. Er insistiert, alle schauen mich an, und schütteln ebenfalls den Kopf – allerdings über mich. Und da kommt es, das Lachen aus Verzweiflung. Was für ein absurder Moment. Obwohl das wahrscheinlich keiner meiner 15 neuen Freunde nachvollziehen kann, lachen sie mit mir – vielleicht, wahrscheinlicher über mich. Was irgendwie gerechtfertigt ist, wie ich da mit meinem deutschen Misstrauen das Handy umklammere. Der Mann ruft schließlich Murat an und ich komme sicher bei ihm an. Dort werde ich mit dem Raki und Weintrauben empfangen. Ich muss noch viel lernen, denke ich.
Und zwar nicht nur die Sprache.
Ein paar Monate später habe ich ein gutes Gefühl: Ich habe dieses Gefühl der Fremde überwunden. Ich verstehe die Türken und die Türkei und gebe mir Mühe, dass sie mich auch verstehen. Es hat gedauert, aber ich fühle mich, als könnte ich die Dynamik zwischen Melancholie und alltäglicher Heiterkeit verstehen, manchmal sogar nachvollziehen. Wenn ich nach einem Tag an der Uni mit der Fähre über den Bosporus nachhause fahre, geht es mir gut. Ich bin zuhause, in dieser wunderbar großen, chaotischen Stadt.
Es ist beeindruckend, wie schnell man sich an eine neue Umgebung gewöhnen kann, wie die völlige Fremde schnell zum geliebten Vertrauten wird. So vertraut, dass man plötzlich eine neue Heimat hat. Heimat ist meistens, wo man herkommt, aber auch, wo man hingeht und wo man bleibt. Oder am liebsten bleiben möchte.
Und Heimat bleibt – im Herzen und im Kopf.
Ein türkisches Sprichwort besagt Heimat ist nicht da, wo man geboren ist, sondern da, wo man satt wird." Satt geworden bin ich zwar auch schon woanders, aber besonders in der Türkei ist es leicht, immer umgeben von duftenden Köstlichkeiten und unglaublich viel Kultur. Obwohl es schwer ist, das Wort Heimat in andere Sprachen zu übersetzen, kennen die Türken diese Bedeutung nur allzu gut. Es ist ein süßes Gefühl, hier meist kombiniert mit einer leichten Traurigkeit, die ihm Hinterkopf bleibt und beinahe schmeckbar ist, im Raki, den man vor allem dann trinkt, wenn man traurig sein will. Viele Türken kamen einst aus dem tiefen Osten nach Istanbul, um Arbeit zu finden. Istanbul ist eine andere Welt, vielleicht eine bessere, aber man muss sie erst als Heimat liebgewinnen. Und auch, wenn das gelingt: Manchmal sehnt man sich doch danach, was man hinter sich gelassen hat, man hat Heimweh, auch, wenn man eigentlich in der Heimat ist.
Irgendwann war mein Erasmus-Jahr vorbei und ich habe ein Stückchen Heimat hinter mir gelassen, bin erst nach Bulgarien dann nach Ruanda gegangen. Die deutsche Sprache sieht eher selten einen Plural für das Wort Heimat vor, aber den braucht man nicht unbedingt, selbst wenn man mit der Bezeichnung verschiedene Orte assoziiert. Heimat kann wachsen, auf ganz verschiedenen Ebenen. Wenn man sich danach sehnt, heißt es Fernweh, was ich sehr gut kenne.
Und Heimweh? Heimweh habe ich mittlerweile öfter – aber das ist ein schönes Gefühl.