Die erste polnische Zahnpasta ist schon alle
Eine Zahnpastatube geht schnell alle, wenn man es nicht möchte. Und es kann ewig dauern, wenn man darauf wartet. Seid gespannt, was in der Zeit meiner ersten polnischen Zahnpasta alles passiert ist.
Nach dem geschichtsgefüllten Bericht über Warschau nun ein wenig „leichtere Kost“. Well, zumindest für euch. Denn was alles in der Zeit der ersten polnischen Zahnpasta passiert ist, war für mich alles andere als leicht. Auf die rosarote Brille im September folgten der Kulturschock, die Herausforderung des eigenen Haushaltes und der Umgang mit dem Gefühl des Alleinseins. Denn obwohl ich weiß, dass ihr mit Interesse mein Leben hier verfolgt (ich will nicht sagen mein Jahr, denn das klingt wie ein Abschnitt, der gleich zu Ende ist. Und das will ich auf gar keinen Fall. Außerdem ist es nicht einfach nur ein Jahr, es ist ein richtiges Leben) war es teils schwierig die Wochenenden rumzukriegen. Und die Zahnpasta wollte einfach nicht leerer werden.
Nachdem ich dann auf dem ersten Zwischenseminar meine Seele frei geredet hatte, sah die Welt auf einmal ganz anders aus. Mit meinem Mentor kam ich besser klar und es eröffneten sich mir neue Möglichkeiten, wie Gespräche über einen internationalen Freiwilligendienst, die Vor- und Nachbereitung eines Workshops in Stettin zur Herstellung von sprachanimatorischen Materialien, das Nähen von Haaransteckern für eine Gala der Freiwilligen und Unterstützung bei der Weihnachtsfeier. Ich hatte das Gefühl von tratwa wirklich gebraucht zu werden. Und als ich dann auch noch auf dem Weg zu einer Bar einfach so von einem Bekannten angequatscht wurde, war mein Dazugehörigkeitsgefühl in dieser Stadt perfekt. Mit all den guten Wünschen von den Jugendlichen von tratwa, die freiwillig, ohne dass ich sie angesprochen habe, auf mich zu kamen, bin ich nach Hause gefahren. Es war wunderbar, denn so wurden die Weihnachtstage mit der Familie und Freunden zu einer gewissen „Quality-Time“. Und es hat mir unglaublich gut getan mein altes Leben mit dem jetzigen zu vergleichen und noch ein paar Haushaltstipps mitzunehmen. Vorher habe ich die Krise bekommen, dass ich gefühlt so viel in der Wohnung bin. Aber nun ist mir klargeworden, dass ich früher nur so viel Zeit für alle meine Hobbies hatte, weil mir gewissermaßen der Rücken freigehalten wurde. Leider eine wichtige Erkenntnis, befürchte ich.
Seit dem neuen Jahr, meine Zahnpasta zeigte mir auf erschreckende Weise an, wie viel Zeit doch schon vergangen war, nehme ich eine ganze Reihe neuer Aufgaben war. Ich leite zwei language-cafes, eines für die Mitarbeiter aus der benachbarten Organisation Sektor 3 und eines für die Jugendlichen aus tratwa. In Sektor 3 ist die Zielgruppe zwischen 35 und 60 Jahre alt. Sie alle werden auf ein Seminar in verschiedenen Ländern Europas fahren und wollen dafür ihre Englisch-Kenntnisse mit einem Muttersprachler (jahaaa, das wusste ich bis dahin auch noch nicht von mir) verbessern. Allerdings variiert das Niveau auch dementsprechend. Ich denke mir also jeden Donnerstag ein neues Thema aus und versuche alle zum Sprechen zu motivieren. Die Zielgruppe in tratwa ist ca. 15 Jahre alt. Und da tratwa mit benachteiligten Jugendlichen zusammenarbeitet, sind die Englisch-Kenntnisse begrenzt (Wojtek hätte am liebsten ein Deutsch-Café). Es geht darum sie durch Spiele zum Gebrauch einer Fremdsprache zu animieren und ihnen überhaupt einen Sinn für das Erlernen aufzuzeigen. Nach mehreren Mensch-ärgere-dich-nicht-Runden, habe ich beim nächsten Mal mit einem Mädchen Deutsch-Hausaufgaben gemacht. Wir haben versucht uns gegenseitig etwas zu übersetzen, denn wenn ich mich mit Polnisch abmühe sinkt bei ihnen die Hemmung für Deutsch oder Englisch. Diese Hausaufgaben-Hilfe mit Animation bieten Kama und ich jetzt jeden Mittwoch und auch freitags an. Genauso wie ihre Sprachkenntnisse variiert allerdings auch die Teilnehmerzahl, es ist also jedes Mal eine Überraschung und Herausforderung sich auf die Gruppe einzustellen.
Ansonsten bereite ich im Büro den Stettin-Workshop nach. Über diesen Aufenthalt habe ich schon einen Bericht geplant, also nicht wundern, wenn euch das jetzt noch nichts sagt. Auf diesem Seminar sind viele Ideen entstanden für deren Vollendung die Zeit aber zu knapp war. Und das mache ich jetzt. Außerdem hatte ich einen viel größeren Gestaltungsanteil an unserem dritten Zwischenseminar, das erneut in tratwa stattfand. Auch darüber demnächst mehr. Und die Planungsphase des Besuches der Rosenheimer Schüler geht in die nächste Runde. Wie sie oft hat mir mein Mentor eine Aufgabe übertragen auf die er keine Lust hat. Für mich war es allerdings eine sehr interessante Erfahrung, die mehr einen tieferen Einblick in die Projektplanung ermöglichte. Ich habe den Förderantrag beim Deutsch-Polnischen Jugendwerk (DPJW) zu 80% alleine ausgefüllt. Damit war ich zwar knapp eine Woche beschäftigt, aber umso stolzer bin ich über das Ergebnis.
Je leerer die Zahnpasta wird umso voller wird meine Kontaktliste. Dank der Besuche beim Tower of Babel habe ich mich schon mehrmals mit Anna, einem Mädchen aus der Ukraine getroffen. Wir waren Schlittschuhlaufen und waren mit einem Inder, den wir auch vom Tower kennen, in der padbar. In dieser Bar kann man sich Play-Station- oder Gesellschaftsspiele ausleihen. Das war sehr sympathisch als an jedem Tisch berechnet oder rege diskutiert wird. Anna und ich verabreden uns jetzt regelmäßig um gemeinsam zum Tower zu gehen. Es ist wunderbar zu wissen, dass sich da jemand auf dich freut, der dein Leben verfolgt und der gerne Tipps von dir hört. Und wenn wir langweilige Gesprächspartner erwischt haben, dann können wir zusammen weiterreden und sitzen nicht einsam unter Leuten in einer Großstadt. Mit der Freundschaft scheint es sich so zu verhalten, wie mit der Gesundheit: Erst, wenn man es nicht mehr hat, merkt man, dass es fehlt.
Heute ist meine erste polnische Zahnpasta komplett alle gegangen. Ich habe es geschafft, in 6 Monaten meinen eigenen Haushalt aufzubauen, mir Aufgabenfelder zu erarbeiten, mich in die polnische Sprache reinzuhören, einen Bekanntenkreis aufzubauen und mich heimisch zu fühlen. Morgen breche ich die zweite Zahnpasta an und mit ihr beginnt einen neuer Abschnitt meines Freiwilligendienstes in Polen.