Die Deutsche Kartoffel
Vor vier Wochen bin ich in Tallinn angekommen. Nun möchte ich die ersten Wochen in meiner neuen Heimat revue passieren lassen.
Endlich habe ich die Zeit gefunden, über mein Auslandsjahr hier zu schreiben. Ich muss zugeben, dass die letzten vier Wochen die ereignisreichsten meines Lebens waren (zumindest bis jetzt). Die Tage rasten wie im Schnelldurchlauf an mir vorbei und auch jetzt habe ich noch nicht richtig begriffen, dass dies nun meine Realität ist. Eine Realität, die sehr stark durch das Neue und Unvorhersehbare gekennzeichnet ist. Ob ich mich schon eingelebt habe? Nein, doch langsam aber sicher pendelt sich ein gewisser Alltag bei mir ein. Ich gewöhne mich Schritt für Schritt immer mehr an das Leben hier. Ich muss ehrlich gestehen, dass ich die Gefühle, die mich in den ersten Tagen begleitet haben, schwer einordnen kann. Von Neugierde und Vorfreude über Angst und Überforderung war alles dabei. Doch kommen wir nun zu alldem was mich erwartet hatte.
Am 5. September startete ich nach Tallinn. Gemeinsam mit meiner Mitfreiwilligen Luisa stieg ich um 12 Uhr mittags in das Auto und schaute auf das Haus zurück, das für achtzehn Jahre mein Zuhause war und das ich nun für 4 Monate nicht mehr sehen würde. Der Abschied von meiner Mama und meinem Pat war kurz und ohne Tränen. Ich denke, dass zu dieser Zeit keiner von uns realisiert hatte, dass uns nun eine längere Trennung voneinander bevorsteht. Wie auch? Dann ging es in den Flieger. Ab da ging alles ganz schnell. Wir sind in unserer Wohnung angekommen, haben ausgepackt und sind schlafen gegangen (eine sehr unruhige Nacht übrigens). Als wir am nächsten Tag im Peeteli, unserem Arbeitsplatz, angekommen sind, wurden wir erst einmal ein bisschen verwundert begrüßt. Wir haben dann erfahren, dass wir eigentlich noch einen Tag frei gehabt hätten. Tja, immer diese übermotivierten Deutschen (zumindest meistens). Manche Kinder haben uns gar nicht erst beachtet, andere kamen neugierig auf uns zu. Doch ein Gefühl war unser stetiger Begleiter während der ersten Woche, nämlich das Gefühl nicht dazuzugehören. Die Kommunikation war und ist auch jetzt noch schwierig. Viele Mitarbeiter können Englisch, manche sprechen nur Estnisch und Russisch. Besonders die älteren Kinder probieren mit uns zu reden und die Kleinen wissen sowieso, wie sie auch ohne Worte uns etwas klarmachen können. Wir haben oft gekocht in den drei Wochen, was eine echte Herausforderung war, einmal in Bezug auf die Zutaten, die da waren, und einmal auch wegen dem Einschätzen der Mengen. Keiner von uns beiden musste bis jetzt für mehr als 6 Leute kochen geschweige denn für 30 Kinder. Unser Verhältnis zu den Kindern kann man als sehr besonders bezeichnen. Wir wurden manchmal beleidigt, getreten, geschlagen und gepikst. Ob ich darauf vorbereitet war? Nein, aber je mehr man von dem familiären Hintergrund erfährt, desto besser versteht man das Benehmen der Kinder. Und dann gibt es noch diese kleinen Momente, wo man das Gefühl des Angekommenseins spürt. Ob beim Papierfliegerwettrennen, Tischkickern, beim Französisch und Englisch lernen oder einfach beim stillen Malen und Basteln mit ein paar einzelnen Kindern. Ein wichtiger Tag für mich war der Freitag, an dem wir zum ersten Mal geholfen haben Essenspakete an die Familien zu verteilen. An diesem Tag wurde mir bewusst, wie wichtig die Arbeit des Peetelis ist. Die Familien sehen in den Mitarbeitern nicht nur Menschen, die ihnen lebenswichtige Grundnahrungsmittel geben, sondern auch Ansprechpartner und Menschen, die sich um sie kümmern und sich nach ihrem Wohlbefinden erkundigen, denen sie nicht egal sind. In Estland ist die Situation zwischen Russen und Esten aufgrund der gemeinsamen Vergangenheit sehr schwierig, weshalb das Sozialzentrum auch eine Organisation ist, die nicht durch die Regierung oder die estnische Kirchengemeinde unterstützt wird. Ein weiteres besonderes Ereignis war der Besuch einer norwegischen Kirchengemeinde, die als einer der wichtigsten Unterstützer des Projekts gelten. Sie sind für die Kinder wie Verwandte. Wir waren mit ihnen und den Kindern gemeinsam samstags arbeiten. Eine Frau fragte uns dabei, welche Aufgaben wir eigentlich im Peeteli übernehmen. Unsere Antwort: alle. Wir haben bis jetzt geputzt, Lager aufgeräumt, Hausaufgaben gemacht, den Hof gekehrt und viele andere Aufgaben übernommen. Daraufhin bezeichnete uns die Frau als Kartoffeln. Sie erkannte an unseren verdutzten Gesichtern, dass wir keine Ahnung hatten, was sie damit gemeint hatte. Sie erklärte uns, dass Kartoffeln in Norwegen für alle möglichen Gerichte benutzt werden und deshalb bezeichnen Norweger die „Personen für alles“ als Kartoffeln. Und sind wir mal ehrlich, dass passt so hervorragend zu uns zwei deutschen Mädels (ohne dabei auf ein bestimmtes Klischee anspielen zu wollen).
Das ist nun erstmal zu unseren ersten 4 Arbeitswochen alles gewesen, zumindest im groben Überblick. Ich hoffe, dass ich euer Interesse für mein Freiwilliges Soziales Jahr geweckt habe. Ihr werdet auf jeden Fall noch einiges von mir zu hören bekommen.