Die Angst vor dem Sommer
Küstenstädte haben, wie viele touristische Ziele, ein besonderes Verhältnis zu ihren Besuchern.
Dieses Wochenende erreichten die Temperaturen an der belgischen Küste bis zu 24°C.
Es geschieht selten genug, dass man an der Nordseeküste mit gutem Gewissen und im T-Shirt in der Sonne sitzen kann, ohne dabei von einem stetigen Wind geplagt zu werden. Das gute Wetter also, verbunden mit einem verlängerten Wochenende, sorgten für etwa eine halbe Millionen Besucher an der gesamten belgischen Küste.
Küstentourismus ist kein neues Phänomen, sicher nicht für Oostende. Zwar waren Schifffahrt und vor allem Fischerei lange Zeit bedeutende Einnahmequellen, aber die Massen an Menschen, die jedes Jahr an die Küste pendeln, haben diese längst abgelöst.
Bereits unter der Herrschaft von Leopold II, vom Ende des neunzehnten bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, machte Oostende als Kurort von sich hören. Leopold II ließ viele der Gebäude errichten, die Oostende noch heute ihren Charme verleihen, unter anderem die Koninklijke Gaandereien (die königliche Gallerie) oder die Sint-Petrus-en-Pauluskerk*. Auch der Kursaal, ein großer Saal mit Bühne, samt Casino, lässt die Stadt ein wenig entrückt wirken.
Heutzutage hat die Stadt allerdings weniger Kurort-Charakter. Der Massentourismus in Richtung Küste hat seine Spuren hinterlassen, in Oostende wie in anderen belgischen Küstengemeinden. Meist ist die Küste voll verbaut, um möglichst vielen Besuchern (und manchmal auch Anwohnern) einen Meerblick zu ermöglichen. Hohe Apartmentblocks reihen sich aneinander, und wo mal nichts verbaut ist, fährt immer noch die Kusttram (übrigens die längste Tramlinie der Welt, die Besucher von der französischen bis an die niederländische Grenze bringt). Zwischen den moderneren Gebäuden ragen aber immer noch altmodisch anmutende Fassaden hervor, die einen wieder kurz in eine andere Zeit versetzen.
Wie lebt es sich also in einer Touristenstadt?
Am seltsamsten ist wohl das Gefühl, dass man selbst zum Tourist wird, sobald man an einem warmen Tag die Strandpromenade betritt. Da macht es nichts aus, ob man sechzig, dreißig oder drei Jahre in Oostende gelebt hat und die Stadt in-und auswendig kennt, oder ob man gerade das erste Mal beschlossen hat, dem Meer einen Besuch abzustatten – auf der Strandpromenade unterscheidet Alteingesessene und Neulinge höchstens, dass manche es bereits gewöhnt sind, den Fahrradfahrern auszuweichen, die sich durch die Menschenmengen schlängeln. Am Meer ist man immer ein bisschen Tourist, und jeder Strandbesuch ist ja auch ein kleiner Urlaub (außer für die Rettungsschwimmer am Strand, die dort tatsächlich ihren Job erledigen).
Dann ist da natürlich die Frustration. Wenn ich meine Wocheneinkäufe erledige, würde ich dabei gerne möglichst wenig auf das Wetter achten müssen, dass in Oostende mehr als anderswo diktiert, wie voll die Supermärkte, Straßen und Straßenbahnen sein werden. An einem Wochenende wie diesem sind die Warteschlangen an den Kassen lang, und die Nerven liegen bei Touristen und Angestellten ein bisschen blank durch die Hitze, dazu kommen tatsächliche Anwohner, die sich durch die Flut an Menschen über- oder hintergangen fühlen. Sonst ist hier ja schließlich auch nicht so viel los.
Ich jogge den selben Weg auf der Strandpromenade, jede Woche, egal bei welchem Wetter. Lieber sind mir jedoch die Tage, an denen es ein bisschen bewölkt ist, und sich nicht so viele Besucher die gelb gepflasterte Promenade entlangschieben, und ich meinen Weg in Ruhe gehen kann. Andere Freunde, die regelmäßig mit der Straßenbahn zur Arbeit fahren, sehen sich dem unverständlichen Verhalten von Menschen gegenüber, die sich im Urlaub befinden und plötzlich nicht mehr rational zu handeln scheinen. Da werden Ausgänge blockiert, und es muss sich auch noch der letzte Besucher mit aller Gewalt in die Straßenbahn quetschen. Stress vorprogrammiert, weil die eine Hälfte ja nur ein entspanntes Wochenende haben wollte, und die andere Hälfte nichts will als zu ihrer Arbeitsstelle zu kommen.
Im Winter hingegen sind die Straßen dann wie leergefegt.
Natürlich kann man niemandem verdenken, dass er oder sie sich bei dem wechselhaften, nasskalten, winterlichen Küstenwetter nicht auf die Straße wagen will, aber es ist auch Fakt, dass viele der Sommertouristen, die eine Wohnung an der Küste haben, im Winter Inlands bleiben und ihre Wohnungen leer stehen. Die Supermärkte verkürzen ihre Öffnungszeiten, einige Restaurants oder Strandbars schließen für einige Zeit ihre Türen.
In diesen Monaten wirkt Oostende dann wie eine halbe Geisterstadt, grau und menschenleer. Zwar gibt es weiterhin Aktivitäten im Kursaal, und auch sonst hat die Stadt sicher einiges zu bieten, aber die meisten Menschen bringen das Meer mit dem Sommer in Verbindung, und bleiben der Küste in den Wintermonaten fern.
An der Küste wird es in den nächsten Tagen voraussichtlich wieder ein wenig abkühlen, aber es stehen noch einige lange Wochenenden und die gesamten Sommerferien bevor. Diese Zeit stellt die Stadt und ihre Bewohner immer vor besondere Herausforderungen: Man will die Touristen nicht vergraulen, aber gleichzeitig eine Stadt für Einwohner und Touristen zu schaffen, gelingt oft nicht. Hinzu kommen die Berge von Müll, die immer wieder am Strand zurückbleiben, trotz Abfallbehältern und der Androhung von Strafen. Familien picknicken tagsüber am Strand, abends sitzen junge Leute beisammen und trinken weltbekanntes belgisches Bier, zurück bleiben leere Flaschen, Plastikverpackungen, Einweggrills, weggewehte Hüte und vergessene Handtücher.
Der Tourismus bringt jeden Sommer Leben nach Oostende, und jeden Herbst ist man doch immer wieder froh, wenn es vorbei ist. Um mehr Besucher anzuziehen, werden jedes Jahr zahllose Events ausgerichtet, von denen auch Anwohner profitieren, wie Food Truck Festivals, Bücherflohmärkte, das allseits bekannte Paulusfeesten oder Oostende voor Anker. Die Stadt wäre ohne ihre zahlreichen Besucher nicht dieselbe, aber mit ihnen ist sie oft auch nicht wiederzuerkennen. Wie bei allem gilt es hier, die Dinge in Maßen zu genießen.
* Viele seiner Bauvorhaben verwirklichte Leopold II mit Reichtümern, die er aus seiner Besetzung des Kongo gewann. Leopold, der das Gebiet als seine Privatkolonie verwaltete, beutete das Land über einen Zeitraum von dreiundzwanzig Jahren gewaltsam aus.