Der Traum Europa? Realität illegaler Immigration - Les Sans-Papiers
Die Illusion des europäischen Traumes motiviert schon seit Jahrzehnten Menschen, ihre Heimat aufzugeben und hier ihr Glück zu versuchen - Aber was erwartet sie hier? Eine kleine Studienreise über die Situation illegalisierter Migranten in der französischen Hafenstadt Marseille
“... Mi vida va prohibida, dice la autoridad. Solo voy con mi pena, sola va mi condena; Correr es mi destino, por no llevar papel; Perdido en el corazon de la grande Babylon; Me dicen el Clandestino, yo soy el quiebra ley..”
“… Mein Leben ist illegal, sagen die Autoritäten. Ich gehe alleine mit meiner Not, meine Strafe geht allein. Laufen ist mein Ziel, weil ich keine Papiere bei mir trage. Ich bin verloren im Herzen des großen Babylons. Sie nennen mich den Clandestino (ländlicher, illegaler Migrant), ich bin der, der Gesetze bricht…“
Manu Chao, ein französischer Musiker, in seinem Song Clandestino über die illegalisierte Existenz
„Was bedeutet das für dich, ohne Papiere zu leben?“ frage ich Nesrin, und versuche ihr in die Augen zu schauen. Aber sie weicht aus. „Angst.“, antwortet sie mir schließlich. Und damit beschreibt sie mir die Basis eines Lebens, das ich mir kaum vorstellen kann: Ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung sind sie von der ständigen Zwangsausweisung bedroht, jeder Kontakt mit dem französischen Staat könnte das Ende ihres erhofften Lebens bedeuten und jeder Schritt in die Öffentlichkeit birgt Risiko. Das erklärt mir Marianne, eine der freiwilligen Helferinnen im Collectif Sans Papiers 13, als ich sie nach dem Alltag ihrer Klienten frage. Ich versuche mir das auszumalen, aber es ist mir fast unmöglich: Für diese Hoffnung auf ein Leben in Frankreich geben diese Menschen ihre Freiheit auf.
Die rechtliche Situation
Menschen, die nicht aus EU-Staaten stammen, haben nur eine geringe Chance auf eine dauerhafte Aufenthaltsberechtigung in Frankreich. Auch Asylsuchende müssen sich einer aufwendigen Bewerbungsprozedur unterwerfen, die sich über zwei Jahre hinziehen kann, in denen sie beispielsweise nicht arbeiten dürfen und so völlig von der staatlichen Hilfe abhängig sind. Wird der Asylgesuch oder der Antrag auf ein dauerhaftes Bleiberecht abgelehnt, erhalten die Personen eine Aufforderung zum Verlassen des Staatsgebiets. In der Hoffnung, den Fall noch revidieren zu können oder auch auf anderem Wege eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten, tauchen viele in die Illegalität ab. Ein Leben mit vielen Entbehrungen: Aus Angst, entdeckt zu werden, beanspruchen viele nicht die ihnen eigentlich zustehenden Grundrechte, beispielsweise die einer Grundversorgung und einer Krankenvorsorge beziehungsweise medizinischer Betreuung.
Denn was erwartet die Menschen im Falle der Entdeckung ihres ungültigen Aufenthaltsstatus? Die Inhaftierung und Abschiebung. Kurzzeitig gab es 2007 in Frankreich sogar die Handhabung, dass Sans-Papiers, sobald sie an Stellen der öffentlichen Verwaltung Unterlagen einreichen oder sich eine Information einholen wollten, direkt am Schalter verhaftet worden sind. Von dieser Praxis wurde aber glücklicherweise nach einer Klage von Menschenrechtsorganisationen wieder abgesehen. Der unerlaubte Aufenthalt in Frankreich stellt eine Straftat dar, und als Konsequenz werden die kriminalisierten Menschen zwangsweise abgeschoben, auch wenn sie in ihren Herkunftsländern häufig keine Perspektiven mehr haben.
Deswegen versuchen die Sans-Papiers unbedingt Polizeikontrollen und andere offizielle Staatsgewalten zu vermeiden, generell stellen öffentliche Institutionen eine Bedrohung dar: Auch Gerichte, Schulen sogar Ärzte müssen den Aufenthaltsstatus nachprüfen und gegebenenfalls die Illegalität melden.
Banu, einer meiner Interviewpartner, erklärt mir, wie weit manche Sans-Papiers auch für ein dauerhaftes Visum in Frankreich gehen: „Für viele ist eine Heirat mit einem französischen Staatsbürger die einzige Möglichkeit. Meiner Ansicht nach grenzt das an Prostitution, denn es gibt auch viele, die diese Zwangslage anderer ausnutzen.“
Die Erwerbsbedingungen
Legal arbeiten dürfen Asylsuchende und nicht registrierte Migranten selbstverständlich nicht, aber sie finden Mittel und Wege, trotzdem einen Zuverdienst zu machen. Denn das Leben in Frankreich ist teuer und häufig können sie aufgrund ihrer Illegalisierung keine Sozialleistungen in Anspruch nehmen.
In ihren sozialen Netzwerken, über Freunde und Familie werden häufig kleine Jobs, „Schwarzarbeit“, vermittelt, von denen nicht die Sans-Papiers profitieren: In dem ihre Arbeitnehmer unter keinem geregelten Arbeitsvertrag stehen, sie weder Steuern noch Versicherungen zahlen müssen und auch nicht an einen Mindestlohn gebunden sind, verdienen die Arbeitgeber der Schwarzarbeit gut.
Den Sans-Papiers bleibt keine Alternative, sie müssen diese menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen akzeptieren um überhaupt Geld verdienen zu können. Denn in die Kriminalität abrutschen möchten die meisten nicht: „Ich möchte nur ein normales Leben für mich und meine Kinder. Mich strafbar zu machen wäre dafür zu riskant.“, erzählt mir Nesrin.
Und wo arbeiten Sans-Papiers? „Ich arbeite häufig auf Baustellen. In dem Gewerbe werden selten Papiere überprüft, ganz in Gegenteil: Unterbezahlte und kräftige Arbeitskräfte sind mehr als willkommen. Das hat ein ganz schönes Lohn-Dumping ausgelöst.“, berichtet Banu in unserem Interview. Und dieses Lohn-Dumping nährt noch Aggressionen gegen die sich illegal aufhaltenden Migranten: Sie würden den Franzosen Arbeitsplätze rauben. Da lacht Banu: „Als ob wir nicht gerecht bezahlt werden wollen!“
Die Beschäftigungsverhältnisse sind häufig im Privaten Raum und die Arbeitgeber Privatpersonen, alles andere wäre zu riskant. Da die Sans-Papiers keinerlei rechtlichen Arbeitnehmerschutz genießen sind sie den Arbeitgebern ausgeliefert, aber sie haben keine andere Wahl.
Der Alltag
„Sobald ich aus dem Haus gehe, habe ich Angst, kontrolliert zu werden.“ Das, was Nesrin beschreibt, ist letztlich der gezwungene Rückzug ins Private. Der Alltag der Sans-Papiers spielt sich in der Familie und Nachbarschaft ab, denn die Öffentlichkeit ist bedrohlich: In der zweigrößten Stadt Frankreichs ist die Polizei aus Sicherheitsgründen allgegenwärtig, und momentan, nach dem Ausrufen des Notstandes anlässlich der Attentate von Paris am 13. November 2015, patrouilliert in Marseille regelmäßig das Militär. Was als Maßnahme zur Erhaltung der Sicherheit dient, ist für die sich illegal in Frankreich befindenden Menschen höchst gefährlich, denn die Wahrscheinlichkeit einer Abschiebung steigt.
Die gesundheitliche Situation der Sans-Papiers ist prekär, erklärt mir Marianne vom Collectif, denn der psychologische Stress und die Dauerbelastung haben auch ihre physischen Folgen: Beispielsweise Angstzustände, Nervosität, Depressionen. Auch die allgemeine Lebenssituation, die Armut, unzureichende Ernährung und generelle Unterversorgung, verschlimmern die Gesundheitssituation der Sans Papiers noch. Dazu kommt, dass sich die betroffenen Menschen auch im Krankheitsfall selten an offizielle Ärzte wenden, auch wenn ihnen eigentlich die medizinische Versorgung durch die Menschenrechte garantiert wird. Aber diese öffentlichen Stellen sind ja verpflichtet den Aufenthaltsstatus zu überprüfen. Im Krankheitsfall wird sich so an die Familie und generell das soziale Netzwerk gewandt, für eine improvisierte Behandlung.
Diese sozialen Netzwerke sind die Basis des Lebens der Papierlosen: Diese kleinen Gesellschaften bestehen aus der Familie, Freunden, Nachbarschaft und auch Bekannten der gleichen ethnischen Gruppe. In diesen Netzwerken zirkulieren Besitzgüter, werden wertvolle Informationen, beispielsweise über Jobmöglichkeiten oder Essensausgaben, ausgetauscht und Geschichten geteilt. Als ich meinen Interviewpartner Banu nach seinem sozialen Netzwerk frage, erzählt er mir von seiner essenziellen Importanz: „Ohne den Rückhalt meiner Leute, meiner Familie, würde ich den Alltag nicht überstehen. Nur wenn wir uns selber organisieren können wir in der Illegalität überleben.“ Denn die Papierlosen leben in dem Schatten der Gesellschaft, sie können nicht an ihr teilhaben, die einzige Gesellschaft, die ihnen bleibt, ist die ihrer Bezugspersonen.
„Ich bin nach Frankreich gekommen, weil ich große Hoffnungen für meine Kinder und mich hatte. Diese Träume habe ich längst aufgegeben, das Leben hier ist nicht so einfach wie man sich bei mir Zuhause erzählt. Mein Ziel ist es nun, endlich die Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten, um ein normales Leben mit meiner Familie zu führen. Marianne hilft mir dabei.“ Nesrin, mit der ich mein Interview führe, gehört nämlich zu den Menschen, die die Hilfe des Collectif Sans Papiers 13 in Anspruch nehmen. „Wir bekommen nicht viel Hilfe, aber hier schon. Hier fühle ich mich auch etwas sicher.“
Träume lassen sich ohne gültige Papiere nicht realisieren in Europa. Auch wenn Frankreich, das Land der großen Revolution, in der auch die allgemeinen Menschenrechte erklärt wurden, sich immer noch auf seine Grundsätze „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ beruft, handelt es sich hierbei um eine exklusive Gesellschaft.