Der Meister der kleinen und der großen Dinge
Ein Brief an meinen Opa
Bei gutem Wetter sind wir auf die Wiese vor dem Haus gegangen, um dem Gesang der Vögel zu lauschen. Mit geschlossenen Augen konnten wir diese kleinen Vogelkonzerte in vollsten Zügen geniessen. Du kanntest jeden Singvogel bei seinem Namen und hast sogar ihre einzelnen Stimmen unterschieden. Damit hast du mir beigebracht, dass man nicht weit reisen muss, um Großes zu erleben. Was man braucht ist Mut, um seiner Fantasie freien Lauf zu lassen!
Probleme sind dazu da, um sie zu überwinden
Doch jetzt, da ich schon so weit weg bin, hast du dir ein Smartphone gekauft. So können wir, wann immer wir wollen, miteinander sprechen. Zumindest theoretisch... denn oft drückst du den falschen Knopf, sodass ich eine leere SMS oder ein zufällig geschossenes Bild bekomme, anstatt deinen Anruf.
Ich mag das Bild von deinen Hausschuhen oder der mit Samtdecke bedeckten Tischkante. Am meisten mag ich aber den Kurzfilm, auf dem ein Teil deines Gesichts zu sehen ist... die ungeduldig gerunzelte Stirn, die riesige Brille und das stumpfe Ticken der Wanduhr im Hintergrund.
Bei unseren Gesprächen erzähle ich dir von meinen Problemen mit der Gastinstitution. Deine Antwort kommt prompt. Für dich ist die Situation gar nicht so aussichtslos. Denn gerade wenn es Hindernisse gibt, wird es spannend. Du brauchst nicht mal die ganzen Details hören. Eigentlich reicht es schon, dass es ein Problem gibt. Und Probleme sind doch dazu da, um sie zu meistern, oder nicht?
Spiele die Situation so aus, dass sowohl der Wolf satt wird als auch das Schaf verschont bleibt. So mache ich das immer. Eines Tages beklagte sich eine Frau über das Schnarchen ihres Mannes. Eine scheinbar aussichtslose Angelegenheit. Doch weißt du, was ich ihr geraten habe? Sie solle das Schnarchen ihres Mannes zu lieben lernen... Ja, richtig! Sie solle sich in das Geräusch regelrecht verlieben. Früher oder später, so versichere ich ihr, wird sie es nicht mehr missen wollen.
Das Geräusch ist lästig, der armen Frau bleibt also nichts anderes übrig, als auf meinen Rat zu hören. Und siehe da, das nächste Mal, als wir uns begegnen, kommt sie glücklich auf mich zu: "Ihre Methode funktioniert tatsächlich! Ich habe das Schnarchen zu lieben gelernt und es stört mich nicht mehr… und wissen Sie was? Als mein Mann neulich für zwei Tage verreist war, da konnte ich gar nicht mehr einschlafen..."
Bäume sterben aufrecht…
Bäume sterben aufrecht, sagst du manchmal. Ihre Wurzeln reichen bis tief in die Erde. Die weit nach oben ausgestreckten Äste hatten bereits viele Tausend Blätter getragen, doch nur, um sie irgendwann Mal wieder abzulegen. Jahreszeiten ändern sich, doch der Baum bleibt immer stehen - und zwar genau dort, wo er schon immer stand.
Gerade wenn man jung ist, kommt es einem vor, man wisse bereits jede Menge über das Leben. Fremde Länder bereist, auf der Suche nach Neuem. Nach Inspiration, Vorbildern, anderen Perspektiven, Herausforderungen. Letzendes nach Freundschaft und Liebe.
All das war und ist jedoch schon längst da... und zwar hier und jetzt! Danke, dass du es mir immer wieder zeigst!
Alles in uns selbst vorhanden
Ich war traurig, als du krank wurdest, obwohl es doch nicht von heute auf morgen geschah. Es hieß, du wurdest depressiv. Ich habe Jahre später zufällig deinen Abschiedsbrief gefunden, den du an einer jenen dunklen Stunden verfasst hattest. Um dich stand es nicht gut, dein Lebensmut war erloschen, doch die Funken in deinen Augen waren niemals ganz weg. An diesen glänzenden Lichtern konnte ich dich immer wiedererkennen.
Manchmal bin ich es, die Hilfe braucht und manchmal bist du es. Ich bin mir sicher, wir schaffen das schon. Wir leben nach den Wahrheiten in unseren Herzen. Auch wenn wir weit voneinander entfernt sind, so wissen wir beide: der andere ist gerade auf einem seiner Streifzüge, doch früher oder später sehen wir uns wieder. Dann gehen wir auf die Wiese vor dem Haus und lauschen den Stimmen, die du so sehr liebst.
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