Der Königsweg
Ein kalter Morgen, eine Pflicht und ein Ziel.
Die Kirchenglocken läuteten sieben Mal. Beinahe hörte man die Klaviermusik spielen, sah die Kerzen herunterbrennen. Ich stand auf der Anhöhe und blickte auf die Stadt mit der großen Kirche mittendrin. Doch es war nicht die Septe von Baelor, aus der die Töne kamen, nur die Kirche St. Laurentius in Náchod, zudem ich keinen Weinkelch in der Hand hielt. Für sieben Uhr war im Haus eine Zusammenkunft zur Vorbereitung der Veranstaltung, des Běh do zámeckých schodů, zu Deutsch: Schlosslauf, geplant.
Die Tür war verschlossen. Ich ging zu einer anderen verschlossenen Tür, hinter welcher zumindest ein Mensch stand. „Wenn ich schon für euch arbeiten soll, dann müsst ihr mich schon hereinlassen“, dachte ich mir. Ich klopfte, es wurde mir aufgetan. Zuerst halfen wir, Tische zu tragen, die alle schon aus dem Leim gegangen waren. Weiterhin Stühle, Tassen und Kisten. Wieder vermisste ich die deutsche Ordnung. In unseren Turnhallen war nach Beendigung einer Feier immer alles an seinen Platz zurückgebracht worden. Hier kam alles dorthin, wo Platz war. Die Tische waren zudem bedeckt mit Scheinwerfern, Lautsprechern und Lampen. Da es insgesamt aber einfach dermaßen viele freiwillige Helfer und unfreiwillige Freiwillige waren, die dort eben die Pflicht erfüllten, Freitags um sieben statt neun auf der Matte zu stehen, war die Arbeit pro Nase recht überschaubar.
Als ich um sieben Uhr eins in unserem dauerunaufgeräumten Aufenthaltsraum stand, waren nur zwei Leute da. Deutschland und Polen. Von Spanien, Litauen, Estland und Ostdeutschland fehlte jedoch jede Spur. Die Anderen kamen wieder verlässlich fünf Minuten zu spät die Treppe rauf. Das berühmt-berüchtigte Volontäre Zwölftel. Meine Anspielung auf den Roman „Homo faber“ von Max Frisch verstand indessen niemand. „There you are. We’re late Mister Faber, we’re late.“ Frisch ist ein Adjektiv und Wagner eine Pizza, so traurig das auch sein mag.
Als erstes mussten wir als langsamere Version des Götterboten Hermes herhalten und Sachen hin und her tragen. Das Gebäude hatte keinen Aufzug, dafür jedoch zwei Stockwerke. Im Kraftsport gibt es das Konzept der Vorermüdung, welches besagt, dass es förderlich sein kann, einen Muskel zuerst isoliert zu trainieren, um später die ganze Muskelgruppe arbeiten zu lassen. Vor einem Wettkampf war das jedoch überhaupt nicht hilfreich. Trotzdem würde ich an diesem Tag noch unzählige Male die Treppen hoch in den zweiten Stock gehen.
Erstaunlicherweise haben in Tschechien traditionelle Rollenbilder eine außerordentliche Bedeutung. Immerzu hieß es „boys, please carry“ oder „put tables down reception“. Den Frauen wurde es verboten, Stühle, Tische oder Kisten zu tragen, was diesen sauer aufstieß, da sie es als lächerlich empfanden.
Im Gymnastikraum mussten nun noch Schaumstoffmatten platziert werden, um Sitzmöglichkeiten zu schaffen. Die Einzelteile konnten zusammengesetzt werden wie bei einem Legespiel. Wann wird Ordnungsliebe zur Zwangsstörung? Das könnte man sich durchaus fragen, angesichts der Tatsache, dass sowohl mein Arbeitspartner als auch ich unabhängig voneinander entschieden, ein Schachbrettmuster aus den Einzelteilen zu legen. Zwar erhöhte es den Zeitaufwand merklich, aber Zeit ließ man uns und wenn wir die Arbeit schon machten, dann wenigstens richtig.
Was mir das jahrelange Studium der bildenden Künste beigebracht hat, ist, dass reine Symmetrie auch nicht die Lösung ist. Während die Gesamtkomposition durchaus symmetrisch aussehen darf, so sollte dennoch ein wenig Abwechslung mit im Spiel sein, denn eine perfekt symmetrische Häuserfassade kann ihnen jeder dahergelaufene Kunstdilettant zeichnen. Wir platzierten die Vier- und Neunteiler daher in einer Weise, die das Gesamtbild stimmig aussehen ließen, jedoch auch auf den zweiten Blick unseren Hintergedanken an Asymmetrie nie ganz verschwinden ließ. Das Großartige an der Sache war, dass alles ohne Worte funktionierte. Mein Arbeitskollege war nämlich Künstler. Für Literaturkenner mag das jetzt wieder an Homo faber erinnern. Er war gewissermaßen auch mein Marcel, nur ohne Jeep.
Erstaunlich war es, ohne sich abzusprechen, schweigend, die Schaumstoffplatten, der gleichen künstlerischen Intention folgend, zu positionieren, um das ganze schließlich mit einem Hinweis abzuschließen, der in etwa lautete: „Nun, ich denke, das passt. Man muss immer auch ein bisschen Asymmetrie mit drin haben.“ Er nickte und damit war die Sache erledigt.
Nachdem alles an seinem Platz war, wurden wir der Route entlang geführt. Es sollte nämlich der alljährliche Schlosslauf stattfinden. Das ist ein Rennen, das kurz durch die Stadt und dann steil bergauf zum Schloss und wieder zurück führt. Es führt dort eine ellenlange Treppe hoch, die es hochzuhasten gilt. Unserer Aufgabe war es, den Wettkampfteilnehmern den Weg zu weisen. Zwar verläuft die Route seit Jahren gleich, aber man kann ja nie wissen. Gemeinsam gingen wir die Strecke entlang. Wir konnten uns aussuchen, wo wir stehen wollen. Diese Entscheidung war von großer Tragweite, denn nicht überall waren ideale Bedingungen gegeben. In der Ferne erspähte ich eine Bank. Und zwar keine für Geld – mit denen hatte ich in der Vergangenheit ja bereits meine Erfahrungen – , sondern eine Sitzbank.
Schnell kam die Frage, wer hier gern “stehen“ würde. Ich meldete mich als Erster und bekam die Position dann auch sogleich, was mich erfreute. Jedoch liefen wir erst noch zusammen den weiteren Streckenverlauf ab. Unzählige Treppen später konnten wir endlich das Schloss bestaunen. Es ging über den Innenhof, den Vorplatz schließlich zum Tor und über eine Straße wieder hinab. Die Umgebung war bewaldet, gab eine schöne Szene ab. Das letzte Stück war enorm steil, doch wenigstens neu asphaltiert, bot also genug Halt. Einmal links abbiegen und schon war am Ziel angelangt. Nicht unbedingt ein Marathon, aber durchaus fordernd, gerade in Hinblick auf die kalten Temperaturen.
Wir gingen kurz nochmal ins Haus, holten uns Tassen, füllten sie mit heißem Tee, der uns ein bisschen aufwärmen sollte, gingen dann aber wieder Richtung Marktplatz, wo unsere Stationen sein würden. Ärgerlicherweise hatten wir keine Funkgeräte, wussten also nicht, was gerade passierte, besser: was nicht passierte. Denn auch nach dem offiziellen Beginn der Veranstaltung kamen keine Teilnehmer. Stattdessen sah ich interessante andere Leute auf den Straßen: Rentner, Bauarbeiter, Gipser, die mich erstaunt ansahen, wie ich dort stand, in meiner leuchtgelbfarbenen Weste. Einer fragte mich, was das für eine Abhaltung sei, woraufhin ich ihm nur auf Englisch antworten konnte, was er leider nicht verstand. Ich stammelte etwas von „Schloss“ in dem dürftigen Tschechisch dieser Tage und gab ihm pantomimisch zu verstehen, dass es sich um eine Laufveranstaltung handele. Seine Frage verstand ich dann leider nicht mehr.
Trotz der prägenden Rolle, die der Europäische Freiwilligendienst in der Stadt Náchod spielt, sind wir der Zivilbevölkerung kaum bekannt. Entweder man ist Tscheche oder Tourist. Ausländern, die in Náchod leben und arbeiten, begegnet man höchst selten. Wir Freiwilligen sind eine der wenigen Ausnahmen. Ansonsten ist die Bevölkerung recht homogen, was auch sein Gutes hat. Dennoch trifft man tendenziell eher auf geringes Interesse oder Verständnis. An der Schule habe ich es ausgesprochen gut, doch von einer ukrainischen Freiwilligen weiß ich, dass das nicht immer so einfach zu verstehen ist, gerade für ihre Landsleute. Die Leute fragen sie ständig, was sie eigentlich mache und glauben ihr nicht, wenn sie erzählt, dass sie in einer sozialen Einrichtung mit Kindern arbeite. Sie sagen ihr stattdessen: „Du musst uns nicht anlügen, du kannst uns ruhig erzählen, dass du Teller wäschst oder putzt.“ Das Konzept eines Freiwilligendienstes ist gemeinhin meist noch unbekannt, weshalb ich den meisten Tschechen antworte, dass ich unterrichte. Ich bin kein Lehrer, aber ich unterrichte, was ja auch stimmt. Zumal rein objektiv zu mancher Zeit, als viele Lehrerinnen krankheitsbedingt ausfielen oder über die Weihnachtsfeiertage schwanger wurden, meine Tätigkeit nicht unbedingt so weit vom tatsächlichen Lehrer-Sein entfernt war. Am Ende sind es ein Stück Papier und ein paar hundert Euro im Monat, die mich von meinen Lehrerkollegen trennen.
Da nicht viel passierte, saß ich da, was nicht sonderlich bequem, aber besser als stehen war. Die Bank war aus Metall und dementsprechend kalt. Wenigstens hatte ich noch den Tee. Dabei handelte es sich um „Rodinný černý čaj“, also um Familien-Schwarztee. Ein leichter Schwarztee, ganz angenehm zu trinken, allerdings mit so viel Zucker versetzt, dass der “Tee“ schon fast an Sirup grenzte. Der Tassenrand war ganz adhärent. Aber nun gut, an diesem Tag soll es an Zucker nicht fehlen, schließlich würde auch ich am Rennen teilnehmen. In Anbetracht des frühen Aufstehens und des ewigen Rumstehens also in Ordnung. Nach einer Weile war der Tee jedoch weg, Läufer waren jedoch immer noch nicht vorbeigekommen. Ich zückte mein Mobiltelefon und konnte ein wenig Signal von der Touristeninformation abgreifen. Diese lag praktischerweise direkt neben meiner Bank. Alle paar Sekunden blickte ich auf und hielt nach Leuten Ausschau, bei denen es sich um Teilnehmer oder Verantwortliche handeln hätte können. Doch keiner kam, niemand wollte laufen, schien es. Zwar waren während den Aufbauarbeiten etliche Schulklassen mit potenziellen Läufern eingetroffen, doch bisher blieb alles ruhig.
Nach einer Weile wurde mir mitgeteilt, dass sich der Veranstaltungsbeginn verzögere. Nun gut, warte ich eben. Fünfundvierzig Minuten sind ja nicht die Welt. Bis es dann aber schlussendlich losging, vergingen noch viele Minuten, nicht die versprochenen fünfundvierzig waren es am Ende, sondern ganze siebenundsiebzig. Eine Stunde und siebzehn Minuten Verspätung – das haben wir in Deutschland, so weit ich mich entsinne, noch bei keiner Veranstaltung geschafft. Aber alles kein Problem, wir sind ja extra hergekommen, um eine andere Kultur kennenzulernen.
Über die Lautsprecherdurchsage hörte ich dann endlich das offizielle Startsignal. Kurze Zeit später kamen die ersten Läufer um die Ecke, über den Marktplatz, bis zu meiner Position. Ich deutete ihnen den Weg Richtung Schloss. Aufgabe erfüllt. Ein paar brachten ein Lächeln zustande, andere starrten gerade nach vorne, fokussierten sich auf die Strecke und dachten an die bevorstehenden Stufen. Diesen Tunnelblick konnte ich ihnen jedoch nicht empfehlen, denn hinter einer Hausecke war ein schwarzer Wagen geparkt, der genau so stand, dass man ihn erst ab dem Kurvenscheitelpunkt sehen konnte. Wer die Kurve eng nahm, krachte also beinahe in das Auto, das sich in der schattigen Gasse kaum von der restlichen Szenerie abzuheben vermochte.
In gewisser Weise repräsentierte ich die Rolle Cerberus'. Dieser bewacht in der griechischen Mythologie den Eingang zur Unterwelt. Direkt nach der Abbiegung begann nämlich der steile und anspruchsvollste Teil der Strecke, das, was den Lauf eigentlich ausmachte. Erst noch ein paar Meter Pflasterstein, dann begannen die gnadenlosen Treppenstufen. Kein Läufer freute sich, diese Etappe vor sich zu haben. Auch ich durfte mich nicht zu früh freuen, denn später wäre ich es, der diese Strecke zu bewältigen hätte.
Die Gruppen waren recht unterschiedlich. Nach Alter, Geschlecht und Schule getrennt, kamen sie angelaufen. Ein paar bekannte Gesichter aus der Plhov-Schule waren dabei, die meisten Leute kannte ich jedoch nicht. Auch die Motivation der Teilnehmer wich stark voneinander ab. So gab es welche voller Tatendrang, die den Berg hinaufhasteten, während andere es langsam angingen, indem sie langsam gingen.
Als der letzte Läufer schon lange an mir vorbeigelaufen war, holten mich die anderen ab und teilten mir mit, dass alle offiziellen Läufer gelaufen seien, nun die Freiwilligen dran seien. Wir liefen wieder zurück zur Organisation, wo es recht umtriebig war. Meine größte Sorgen waren meine Wertsachen, die nicht in fremde Taschen gelangen sollten, weshalb ich meine Jacke samt Rucksack einer Freiwilligen übergab, die gewissenhaft darauf aufpassen sollte. Dann schnürte ich meine Sportschuhe, prägte mir nochmal die Strecke ein, bereitete mich mental auf das Rennen vor. Zwei andere Freiwillige wollten auch noch mitmachen. Es war schade, dass es nicht mehr waren, zumal im Vornherein oft genug die Möglichkeit bestanden hatte, Interesse anzumelden. Wenn es um Sport ging, schien der Spaß aufzuhören. Dann waren von sechzehn Freiwilligen plötzlich nur noch drei übrig. Wenigstens drei, das muss man fairerweise sagen. Ich bin den zweien dankbar, dass sie sich bereit erklärt haben, alleine wäre ich wahrscheinlich nicht gelaufen. Als Übung geht das, aber im Ernstfall ruiniert es den Wettkampfgeist. Man braucht jemand, der einen motiviert, weiterzulaufen, der einen zieht oder einem im Nacken liegt, einem jedenfalls zu verstehen gibt, nicht stehenzubleiben, weiterzulaufen, schneller zu laufen, niemals aufzugeben.
Wir gingen in Startaufstellung, bis das Signal kam. Nun galt es, nun war nichts mehr mit Zweifeln, nichts mehr mit “es ist kalt“, “ich fühle mich nicht gut“, “ich bin müde“, nun ging es nach vorne, und das schnell. Der Weg war recht schmal, nebeneinander konnte also nicht gelaufen werden. Stattdessen ließ ich mich etwas schneller als die anderen beiden den Berg hinunterziehen. Das erforderte kaum Kraft, nur Koordination, war jedoch riskant, denn im Straßenbelag klafften tiefe Löcher, der Untergrund war uneben, rutschig trotz Asphalt, schwer einzuschätzen. In Serpentinen ging es bergab, doch nur kurz, dann kam das Eisentor, es ging auf die öffentliche Straße, die in besserem Zustand war, dann nach links über einen Verbindungsweg zum Marktplatz vorbei an dem Restaurant, an dem ich am Tag meiner Ankunft in Náchod zum ersten Mal aß, vorbei an der Kneipe, in der ich an einem lauen Spätsommerabend genüsslich ein Wasser trank, was zur Verwunderung meiner Mitfreiwilligen führte, weiter geradeaus Richtung Touristeninfo, doch kurz davor nach links, nach oben, zu den Treppen. Die erste Etappe, die Kraft forderte.
Der Weg war unvergleichbar steil. Man rannte mit der gleichen Schrittfrequenz wie zuvor weiter, doch es ging einfach nicht voran. Dann stand ich vor den Treppen. Man sah das Ende vor lauter Bäumen nicht. Ich begann, die Treppen hinaufzusteigen. Immer zwei auf einmal, sodass es fast schon Ausfallschritte waren. Ewig konnte das nicht so weitergehen. Es war enorm anstrengend. Wer hätte das gedacht, was? Ich stieg nur noch eine Stufe auf einmal hinauf, nahm die Arme zur Hilfe, indem ich mich an dem Geländer hinaufzog. Das half erstaunlich gut, zumal die Arme im Gegensatz zu den Beinen keine Ermüdungserscheinungen zeigten. Das Problem war, dass man dennoch kaum vorankam. Ich schnaufte wie ein Irrer, doch es gab keine natürliche Kühlung durch den Wind, den man beim Laufen üblicherweise hat. In den Beinen war einfach keine Kraft, um die Treppen in ausreichend hohem Tempo hochzusteigen. So war es kein wirklicher Lauf, sondern mehr eine erweiterte Wanderung. Jedenfalls hatte ich die Treppen unterschätzt, worin ich zum Glück nicht allein war. Die Mädchen waren einige Meter hinter und unter mir und hatten ebenso mit den Stufen zu kämpfen wie ich. Wir waren in etwa gleich schnell, doch immer, wenn sie versuchten, aufzuholen, musste ich ebenfalls beschleunigen, um nicht zurückzufallen.
Am Ende würde meine Platzierung entscheidend sein, nicht meine Zeit. Letztere konnte ich mir abschminken, denn da gab es ganz andere Kaliber bei diesem Wettkampf. Etwa auf halber Höhe kam ich zur Vernunft, sammelte die gesamte verbliebene Kraft und zog nochmal etwas an und hatte nach kurzer Zeit die Treppen schon geschafft. Das ist nämlich das Tückische an solchen Strecken. Anfangs steht man unten und denkt sich, wie man das bloß schaffen soll. Man fängt dennoch an, hat nach der Hälfte ein lokales Minimum, mit anderen Worten: will nicht mehr. Man sieht mehr Stufen, als dort eigentlich sind. Alles findet im Kopf statt, kaum läuft man weiter, ist man auch schon oben. Es kostet Kraft, doch primär Überwindungskraft.
Ich stand am Eingang des Schlosses, hatte noch ein paar wenige Treppen, bis ich auf dem Schlosshof stand. In Sichtweite bereits die nächsten Stufen, doch rechts von ihnen eine Rampe für Kinderwagen und Rollstuhlfahrer. Von Treppenstufen hatte ich erst einmal genug, also nichts da. Der Schotter knirschte unter den Schuhen. Kurz war ich verwirrt, wo es nochmal hinging, ging dann zum Glück den richtigen Weg durch Schlosstore, über Innenhöfe, vorbei an einem Brunnen und vielen Steinen, alten Mauern und Türmen, bis es endlich durchs erlösende Tor ging. Der Großteil war geschafft, nun würde es erst einmal bergab gehen. War doch gar nicht so schlimm. Doch Hochmut war nicht angebracht, denn mein Vorsprung schmolz kontinuierlich.
Zwar ging es bergab und ich konnte schneller als zuvor laufen, doch das konnten die anderen eben auch. Und so schaukelte sich das hoch, bis ich aufpassen musste, keinen falschen Schritt zu machen und auszurutschen auf der laubbedeckten Straße. Ich war mir meiner Sache zu sicher und lief das Rennen nur noch zu Ende, lief langsam aus wie nach einem Sprint, den Zieleinlauf schon in Sicht, jedoch nur in meinem Kopf. Dort waren wir noch lange nicht. Kein Zögern, kein Fehler, nichts war mehr erlaubt. Ich hörte, wie die Schritte hinter mir immer näher kamen, sah aus dem Augenwinkel, wie mich eines der Mädchen überholen wollte, es aber nicht tat. Das war ungünstig, denn so musste ich auf den rutschigen Straßenrand ausweichen, der weniger Halt bot, weshalb ich vorsichtiger und langsamer laufen musste. Doch ein Ass hatte ich noch im Ärmel: der nahende, steile Abschnitt. Als wir dort ankamen, waren wir exakt gleichauf. Jetzt würde sich zeigen, wer noch genug Kraftreserven mobilisieren kann, wer bereit ist, kurz vor dem Ende noch einmal jede Muskelfaser maximal zu fordern.
Der erste Schritt: Ich blieb gefühlt fast auf der Stelle. Die Straße war steil, unmenschlich steil. Keine lockeren letzten Schritte, sondern ein Zielsprint, nicht auf der Ebene, sondern direkt Richtung Himmel. Überall war nur noch Asphalt, es war ein klassisches Spiel Mensch-gegen-Natur, ein Kampf gegen die unleugbare Physik. Jahrelang hat man seine Schnellkraft optimiert, doch waren diese weißen Muskelfasern bisher nur Ballast, den es mitzuschleppen gab, jeden Tag, bei jedem Spaziergang, immer. Nun durften die weißen Muskelfasern zeigen, was in ihnen steckt, was ihre Bestimmung ist. Ob es das beinahe Zerreißen der Fahrradkette an Tag 5 der Tage-wie-diese-Fahrradtour oder ein steiles Stück Straße ist, es war mal wieder so weit. Rohe Gewalt gegen die gnadenlose Umwelt.
In großen Schritten ging es dem Ende entgegen. Ich durfte mich austoben, den Beinen das letzte Bisschen Energie rauben, ihnen den Rest geben. Meine Verfolgerin ließ ich hinter mir, bog nach links ab, hatte noch eine Kurve zu laufen, dann sah ich den Pavillon, den Verantwortlichen mit der Stoppuhr, Blickkontakt, Ende.
Wasser, wo ist Wasser? Ich sterbe, keuche, kann nicht mehr. Die Zeit? Egal, Erster!
Diese Strecke hatte mir alles abverlangt, doch nun war es vorbei. Ich wollte meine Schnürsenkel lockern. Während ich es versuchte, krampften meine Beine und zitterten meine Hände. Meine Bronchien brannten, geizten nach Sauerstoff, den die kalte Luft hergab, mich jedoch erst einmal sprachlos dasitzen laß. Ich fühlte mich, als sei ich gerade einen Marathon gelaufen, dabei waren es nicht einmal zwei Kilometer. Zwei steile Kilometer, mit vielen Höhenmetern zwischen Start und Ziel.
Ich erfuhr meine Zeit: Sieben Minuten, zweiundfünfzig Sekunden. Gerade noch so unter den acht geblieben, immerhin. Mitnichten eine Zeit, auf die man sich etwas einbilden sollte, da bedeutend schlechter als die Zeit von Filip. Das war der Schüler mit dem platten Reifen bei der Fahrradtour. Allerdings war es gewissermaßen die Quittung für diesen Tag und eine Zeit, auf der man aufbauen kann.
Nun war es vorbei, nun konnte man nichts mehr verbessern, sich nur ärgern, nicht schneller gelaufen zu sein. Bestimmend war jedoch erst einmal ein Gefühl der Leichtigkeit, mit der alles plötzlich ging. Ich aß einen Tatranky-Riegel, der mir wenigstens ein bisschen Energie zurückgab. Mehr ging vorerst nicht. Mein Bauch fühlte sich taub an und ich war mir sicher, dass er sich seines Inhalts sofort entledigen würde, hätte ich versucht, sofort etwas zu essen. Wichtiger war die Flüssigkeitsaufnahme, denn die kalte Luft schien mir den gesamten Atmungstrakt ausgetrocknet zu haben. Meine Bronchien, die bei solchen Temperaturen immer kneifen, pochten noch einige Minuten. Meine Jacke und mein Rucksack wurden mir übergeben – alles war noch da.
Die Tschechischstunde folgte. Mein Körper akklimatisierte sich zunehmend, sodass ich ein Mohnhörnchen verdrücken konnte. Dennoch saß ich im Sprachunterricht apathisch da, konnte der Lehrerin nicht wirklich folgen, war körperlich anwesend, geistig jedoch ganz woanders. Auf der Strecke, am Laufen, Umblicken, jedenfalls nicht im Unterricht. Viel Tschechisch habe ich an diesem Tag vermutlich nicht gelernt, wohl aber einiges über Treppen und wie grausam diese sein können.