Der kleine Junge und der große Palast
Lockenjule unternimmt zusammen mit einer Freundin einen Ausflug nach Kiew. Sie erleben dort außergewöhnliche Momente und besuchen die Sehenswürdigkeiten. Fast wie im Märchen!
Ein kleiner Junge und sein Freund schmiedeten einst den Plan, ihr kleines Dorf zu verlassen und einen Ort zu besuchen, von dem man ihnen oft berichtet hatte. Fast jeder auf der Welt kannte den Namen des Ortes, einige wussten mehr, aber nur wenige auf der ganzen Welt waren tatsächlich dagewesen. Auch nicht alle auf der Welt wollten dorthin; aber dort, wo der kleine Junge lebte, war der Ort bekannt und gerühmt und jeder wollte ihn besuchen.
So erhaschten der kleine Junge und sein Freund einen günstigen Moment und schlichen sich des Nachts aus dem Dorf. Sie hüpften auf die nächtlich passierende Postkutsche und begaben sich auf die abenteuerliche Reise.
Ingrid und ich nahmen den allfreitaglichen Nachtbus Richtung Ukraine, welcher komfortabler war als erwartet: Ein richtiger Reisebus, mit weichen Sitzen und verstellbaren Rückenlehnen. Nach zehn Fahrstunden und drei Grenzen sollten wir unser Ziel erreichen. Entgegen meiner Befürchtungen verlief die Fahrt fast reibungslos: Die transnistrische Grenze konnten wir schnell passieren und das "Land" auch ebenso schnell wieder verlassen, auch die Einreise in die Ukraine verlief problemlos. Etwas heikler wurde es erst in der Ukraine. Fast alle im Bus schliefen, außer mir und dem Busfahrer.
Mir platzte fast die Blase und der Busfahrer hatte akuten Nikotinmangel, weswegen er zu meiner großen Freude kurz anhielt. Ich zog mir also schnellstmöglich Schuhe und Jacke an und kletterte aus dem Bus in den spätwinterlichen Schnee. Ein gruseliges Bild bot sich mir: Eine Reihe mitten in der Nacht geöffneter Stände, spärlich beleuchtet, an denen die Leute nicht nur eingelegtes Gemüse zu verkaufen schienen. Aber es führte kein Weg daran vorbei, ich musste eine dunkle Ecke finden, egal wie düster der Ort an sich schon war. Ich machte dem Busfahrer also schnell auf mein Vorhaben aufmerksam. Er sagte mir, ich solle um die Stände herumgehen und dort meine Notdurft verrichten, aber bitte recht schnell. Ich beeilte mich also ans Ende der Standreihe und auf die andere Seite zu kommen; ich hatte nämlich schon auf anderen Busfahrten erlebt, dass die Fahrer für gewöhnlich einfach losfahren, sobald die Zigarette aufgeraucht war - ganz gleich, ob schon alle im Bus waren oder nicht.
Hinter den Ständen angekommen stand etwa fünfzig Meter entfernt mit dem Rücken zu mir ein Mann, der zum selben Zweck wie ich hinter die Stände gegangen war. Ich wusste, dass es auf seinem Rückweg an mir vorbei musste, es gab auch keinen Busch oder sonst was zum Verstecken, geschweige denn Zeit einen anderen Ort aufzusuchen. Also hockte ich mir geradewegs in die nächste Ecke, blickte beschämt zu Boden, sagte mir immer wieder, dass ich den Mann ja nie im Leben wiedersehen würde; und hoffte, dass er einfach im großen anständigen Bogen um mich gehen würde. Da hatte ich mich aber geirrt. Der Mann kam geradewegs auf mich zu, und stellte sich direkt vor mich, um mir beim Pinkeln zuzuschauen. Ich wagte nicht, dass perverse Schwein anzugucken, dass meinen notdürftigen Anblick genoss. Ich dachte eher angsterfüllt daran, was er wohl als nächstes mit mir machen würde. Aber zum Glück wandte er sich ab und ging, sobald ich fertig war, sodass ich sein Gesicht bis heute nicht kenne. Ich lief auch so schnell wie möglich zum Bus zurück, immer noch ohne aufzusehen. Zum Glück war ich gerannt, denn der Busfahrer lenkte den Bus bereits wieder vom Parkplatz weg. Aber ich konnte laut genug klopfen, um auch noch den Rest der Hinfahrt in diesem Bus zu erleben.
Der kleine Junge und sein Freund erwachten am nächsten Morgen vom aufgeregten Stimmengewirr der Reisenden in der Postkutsche, die die Strecke zu kennen schienen und eine baldige Ankunft erwarteten. Tatsächlich tauchten rings um die beiden Kinder bald erste Häuser und das frühmorgendliche Treiben eines geschäftigen Alltagslebens auf, wie sie es auch aus ihrem Dorf kannten. Sollte das etwa der Ort sein, von dem so viele so großes berichtet hatten? Es sah doch nicht anders aus als daheim.
Kurz darauf zog der Kutscher die Zügel an und mit einem lauten Schnauben und Wiehern hielten die Gäule neben vielen anderen Postkutschen. Der Junge und sein Freund sprangen von der Kutsche und sahen sich um. Alles hier war zwar etwas größer, noch etwas lauter, aber noch immer nicht anders als in ihrem Dorf. Aber sie ließen sich von diesem ersten Anblick nicht verschrecken. Also versuchten sie, zunächst einmal zu der Bleibe zu kommen, von der alle zu diesem Ort Reisende erzählt hatten. Ein kleines verstecktes Häuschen sollte es sein, das ein großes Herz beherbergte, das in einem Mann schlug, der arme Fremdlinge gern bei sich aufnahm. Aber es war gar nicht so einfach, dieses Häuschen zu finden.
Ingrid und ich standen ein wenig ratlos an der Zentralbushaltestelle der riesigen Stadt, in der Hand nichts weiter als ein wenig ukrainisches Geld und die Adresse des Hostels, in dem wir übernachten wollten. Das von allen Freiwilligen empfohlene Hostel sollte in Zentrumsnähe liegen, soviel wussten wir. Es müsste doch möglich sein, eines der vielen verschiedenen öffentlichen Verkehrsmittel zu nehmen, um erst einmal ins Zentrum zu kommen. Ich kramte also all meine Bröckchen Russisch zusammen und fragte mich nach entsprechendem Verkehrsmittel durch. Die erste Antwort einer netten reiferen Dame bot mir die Fahrt mit der Metro (U-Bahn) oder dem Trolleybus Nr. 12 und dem Minibus Nr. Hundertsoundso. Sie erklärte mir sogar noch den Weg zur U-Bahn mit der Straßenbahn. Ingrid und ich entschieden uns also für den Bus, der aber leider nicht zu kommen schien. Wir fragten eine jüngere Frau, sie sagte, wir müsste die Straße weiter rauf laufen und dort einen Minibus nehmen, allerdings anderer Nummer als die ältere Frau uns beschrieb. Wir wurden dann noch von zwei anderen gefragten in verschiedene Richtungen der Straße geschickt, bis ich es aufgab und festlegte, dass wir jetzt ein Taxi nehmen würden. Immerhin hatte uns unsere Straßenwanderung ein wenig von Zentralbusplatz weggeführt, sodass der Taxifahrer nur noch halb so viel für die Fahrt zum Hostel verlangte.
Als der kleine Junge und sein Freund endlich vor der roten Haustür standen, hinter der sich ihre Herberge befand, waren Freude und Aufregung groß. Sie traten ein und stolperten beinahe über einen Haufen umher geworfener Schuhe aller Größen und Farben, die wohl den Gästen gehörten. Sie traten leise ein, da es noch immer sehr früh war, doch da trat ihnen schon der Erbauer und Besitzer des Hauses entgegen und begrüßte sie mit einem freundlichen: "Hallo ihr beiden! Ich hatte Euch zwar schon letzte Woche erwartet, aber nichts für ungut, dann seid ihr eben erst jetzt angekommen!"
Der Hostelbesitzer war nicht etwa Hellseher, sondern noch immer in Kontakt mit einem Freiwilligen aus Moldawien, dem ich von unserem Reisevorhaben berichtet hatte. Eigentlich hatten wir tatsächlich eine Woche früher fahren wollen, hatten es dann aber doch um eine Woche verschieben müssen. Aricio, so der Name des kleinen Brasilianers, der jene Altbauwohnung im vierten Stock des Hauses mit der roten Tür eins zum Hostel umfunktioniert hatte, bat uns sogleich zum Frühstück in die Küche. Bei Tee, Weißbrot und Apfelkuchen besprachen wir die Formalitäten. Da wir leider nicht hatten reservieren können (wir waren beide nicht im Besitz einer Mastercard oder ähnlichem) war eigentlich nur ein Bett frei. Wir hätten es uns auch geteilt oder auf dem Boden geschlafen, aber Aricio fasste anlässlich dieser misslichen Lage direkt den Entschluss, endlich das sechste Hochbett im Großgruppen-Schlafzimmer aufzubauen, damit wir beide ein eigenes Bett hätten. Wir plauderten noch eine Weile, bekamen jeder einen Stadtplan und zwei Sightseeing-Routen empfohlen, dann machten wir uns auch schon auf ins Zentrum.
Der kleine Junge und sein Freund traten hinaus in die Morgenluft und marschierten voller Aufregung und großer Erwartungen los. Und kaum dass sie um die erste Ecke gebogen waren, erblickten sie auch endlich das, wovon man ihnen so viel erzählt hatte. Ein riesiger Palast. Oder mehr noch, eine Palastanlage. Eine Burg. Zuerst hatten sie gar nicht recht bemerkt, dass sie bereits eingetreten waren. Denn die pastellfarben gestrichenen, mit weißem Stuck verzierten Fassaden mit den großen, hohen Fenstern waren schon etwas zerbröckelt; Sonne, Regen und Wind hatten ihnen der Glanz genommen. Jedoch, je weiter sie liefen, desto schöner schien der Palast zu werden. Sie erreichten ein gelb getünchtes Gebäude, dessen dunkelblaue Kuppeln mit goldenen Sternen verziert waren. Wie im Märchenbuch strahlten sie in der vormittäglichen Sonne.
Reichlich beeindruckt standen Ingrid und ich vor der Wladimirkathedrale, die mit ihrer Hellgelben Fassade und den goldenen Verzierungen in der wintergrauen Umgebung erstrahlte. Auch im Inneren gefiel mir diese Kirche sofort. Nicht nur der über und über mit Fresken bedeckten Wände, die Personen in ungewohnt menschlicher Art, in mittelalterlichen Trachten und ohne Heiligenschein zeigten; nicht nur wegen der geheimnisvollen Atmosphäre dank der vielen hundert Kerzen, die vor allen (in orthodoxen Kirchen üblichen) Heiligenbilder angesteckt waren; am meisten war es der Geruch der Kirche, der mich sofort einlud, länger zu verweilen. Ich erkannte ihn sofort als guten, anheimelnden Geruch, konnte aber erst nach und nach identifizieren, was es war. Zum einen natürlich das Kerzenwachs und die Flammen der vielen Kerzen, ein wenig auch der Weihrauch der Priester; aber es war noch etwas anderes.
Der sonst kirchenübliche muffig-kalte Geruch war einem süßlichen Duft nach Hefekuchen gewichen. Ja, in der ganzen Kirche duftete es wie in einer Bäckerei. Während unseres bedächtigen Rundganges fanden wir auch die Ursache der Assoziation mit dem großmütterlichen Backofen: Eine Frau vergab an die Kinder, die die Kirche besuchten kleine Körbchen mit Deckel, die aus Hefeteig gebacken waren. Die winzigen Kuchen werden als Belohnung und Anlässlich der Fastenzeit (sie enthalten keinerlei tierischen Produkte) verteilt. Wir großen Kinder bekamen leider keinen, aber ich bin ja auch ein armer Heide und esse sowieso schon zu viel.
Der kleine Junge und sein Freund marschierten weiter durch das schier unendliche Gelände des Palastes. Sie verliefen sich mehr als einmal, und entdeckten gerade dabei immer die tollsten Dinge. Der kleine Junge fand einen Silberring mit grünem Stein, den er rasch in seiner Tasche verschwinden ließ. Sein Freund aber entdeckte etwas viel größeres: Ein unterirdisches System schier unendlicher Gänge.
Eigentlich hatten Ingrid und ich nur die Straße per Unterführung überqueren wollen, da landeten wir auf einmal in einem unterirdischen Einkaufszentrum. Es erstreckte sich, wie wir nach einigen Minuten Gänge-Entlangwandern bemerkten, unter dem gesamten Stadtzentrum. Hier gab es alles, was das kauffreudige Frauenherz begehrte: Schuhe, Handtaschen, Unmengen an Haar- und Halsschmuck, Dekoration, Abendkleider und noch mehr Dekoration. Ein Paradies der Dinge, die niemand braucht und doch jeder kauft. Ingrid und ich waren also die nächsten zwei Stunden damit beschäftigt, Haarreifen aufzusetzen, Ohrringe auszuprobieren, Abendkleiderschnitte zu kritisieren und Dekorationsartikel zu bewundern. Gekauft haben wir übrigens nichts.
Irgendwann fanden die beiden Kinder einen Ausgang aus er unterirdischen Zauberwelt und traten hinaus ans Tageslicht. Sie waren nun natürlich an einer ganz anderen Ecke des Palastgeländes angelangt. Hier war es sehr geschäftig, nicht mehr ganz so prunkvoll. Sie sahen sich um und versuchten, sich zu orientieren. Man hatte ihnen von einem besonderen Ort innerhalb des Palastes erzählt, den sie unbedingt sehen wollten, aber er war am äußersten Rande des Geländes. Die Jungen waren der Rückkehr zur Herberge nahe, denn es war kalt und der Weg zu jenem Ort schien jetzt noch weiter als zuvor. Außerdem hatten sie Hunger. Sie fanden ganz in der Nähe einen Händler, der aber nur Tee verkaufte. Zumindest konnten sie sich bei ihm wärmen, und der Tee, den sie aus den vielen hundert Sorten wählten, wärmte und schmeckte hervorragend.
Nachdem Ingrid und ich uns in dem Café mit den hundert Teesorten niedergelassen, aufgewärmt und bei 90er-Jahre-Popmusik (die übrigens stadtweit in fast jeder Kneipe läuft) den wirklich guten Tee genossen hatten, traten wir wieder hinaus in die Kälte. Mich plagte noch immer der Hunger, und irgendwie klappte die Orientierung mit unserem Stadtplan auch nicht wirklich. Das mochte zu einem an meinem mangelhaften Orientierungssinn, andererseits aber auch am Alter des Plans liegen: Einige Straßen darauf hießen längst anders oder existierten nicht mehr.
Meine Stimmung senkte sich also kontinuierlich dem Nullpunkt entgegen, als sie plötzlich schlagartig gen Höhepunkt umschwang: Vor mir erstrahlte, zwar in kyrillischer Schrift aber deutschem Inhalt: Ein Bratwurststand! Ich, die ich seit geschätzten 365 Tagen keine Bratwurst mehr gegessen hatte, konnte mein Glück kaum fassen. Einige Minuten später hielt ich eine große Bratwurst im Brötchen (!) (auch so etwas gibt es in Moldawien nicht) und Senf in der Hand fühlte mich wie Gott in Frankreich. Nach genüßliche Verputzen dieser fiel mir der restliche, immer noch ziemlich weite Weg zu unserem nächsten Sightseeing-Höhepunkt auch weitaus leichter.
Nach langem Marsch durch die vielen Winkel des Palastes standen der kleine Junge und sein Freund endlich vor dem, was sie so lange gesucht hatten. Unzählige vergoldete Kuppeln leuchteten in der Nachmittagssonne, viele Menschen drängelten sich durch den Eingang zum berühmtesten Ort des Palastes. Die Jungen folgten den Menschen, liefen ebenso eilig wie sie, denn es war schon spät und die Jungen wollten alles erkundet haben, noch ehe es dunkel sein würde.
Die Höhlen des berühmten Lawra-Klosters hatten leider nur bis 16.30 geöffnet, weswegen Ingrid und ich in aller Eile durch das riesige Klostergelände stürmten. Aber wir erreichten den Eingang der ersten 'Höhle' – eigentlich eher eine Katakombe, schneller als erwartet, und betraten die enge dunkle Treppe hinab ins Schwarze.
Vorsichtig stiegen die beiden Jungen die Treppe hinunter, kaum etwas sehen konnten sie. Vor ihnen lag nun ein enger, niedriger Gang, der nur spärlich mit Kerzen beleuchtet war. Von dem Gang gingen kleine Verschläge ab, in denen mit Gold verzierte Holzsärge Standen. In ihnen lagen, von auwendig bestickten, schweren Samttüchern bedeckt die Gebeine von früheren Geistlichen und Heiliggesprochenen. Über ihren Särgen hingen Bilder von ihnen oder aber Gebete, die ihnen eine gesegnete Ruhe bescheren sollten. Der kleine Junge empfand die jedoch eher als viel zu dunkel, muffig, ja etwas gruselig als irgendwie heilig. Trotzdem verhielten er und sein Freund sich still und bedächtig, beobachteten die viel anderen Besucher, die mit Kerzen in der Hand die Sarge küssten oder vor ihnen knieten und Gebete sprachen. Ein wenig froh war der kleine Junge, als er endlich am Ausgang angekommen war und wieder ins Tageslicht hinaustrat. Aber es blieb nicht viel Zeit um verschnaufen, denn auch in die zweite Höhle wollten die beiden noch hinabsteigen. Diese aber lag etwas entfernt; sie mussten eine lange Treppe hinaufsteigen, bis sie zu einem Gebäude mit noch goldener glänzenden Kuppeln und grüner Fassade kamen. Diesmal nahmen auch sie eine Kerze; dann stiegen sie wieder hinab ins Dunkel.
Die zweite Katakombe glich der ersten (zumindest aus meiner heidnischen Ansicht) vollständig, bis auf die Gebeine der Heiligen natürlich. Aber man muss ja alles mal gesehen haben, auch wenn in den Katakomben das fotografieren verboten war. Der Anblick der nach Tod riechenden Heiligenreste hatte mich aber auch nicht gerade zum digitalen festhalten animiert. Nun aber, da endlich die Sonne herauskam und der Himmel in spätnahmittäglichen Blau erstrahlte, zückte ich meine Kamera und fotografierte die herrlichen Anblicke des weitläufigen Klostergeländes. Und während wir so (nun wesentlich langsamer und entspannter) durch die Klosteranlage spazierten, begegneten uns viel Priester und Priesterschüler, die allesamt ein gewisses niedliches Verhaltensmuster zeigten: Sobald sie eine junge Frau sahen, schauten sie das Mädchen mit einem leicht sehnsuchtsvollen Blick von oben bis unten an. Sobald das sich die Blicke des Fräuleins aber mit den ihren trafen, schauten sie sofort weg und liefen schnell weiter. Ist es nicht irgendwie noch überarbeitungswert, dass orthodoxe Priester keusch und unverheiratet bleiben müssen?
Während der kleine Junge und sein Freund so spazierten erklang plötzlich ein ohrenbetäubendes, nicht enden wollendes Glockengeläut von allen Seiten, von allen Türmen. Von überall eilten die in schwarzen Roben gekleideten Herren herbei, warfen und strömten auf eine Kirche zu, in der wohl ein Gottesdienst stattfindet würde. Das Glockengeläut hielt fast eine halbe Stunde an, und auch von anderen Teilen des großen Palastes kamen die Bürger zur Kirche, um gemeinsam zu beten. Die beiden Kinder folgten ihnen jedoch nicht. Sie waren zu müde und machten sich auf, um zu ihrer Herberge zurückzukehren.
Es wurde ein lustiger Abend im Hostel. Denn während Ingrid und ich in der Gruppenküche standen und unser Abendbrot kochten, lernten wir die vielen andern Gäste dort kennen. Unter anderem zwei deutsche Studenten, die ihre Semesterferien hier verbrachten. Ein lustiges Gespann: Ein großer Dicker mit kurzen Löckchen und einem Grinsen, bei dem die Ohren Besuch bekamen. Und ein kleiner dünner, der immer eine bunte Bommelmütze trug. Zudem eine Kanadierin, die in Moskau Englisch unterrichtete, aus Visumsgründen aber Russland für eine Weile verlassen musste. Ein junger Grieche, der unzählige Sprachen fließend konnte, aber im Leben noch immer nicht so recht seinen Platz gefunden hatte und viele mehr.
Bis auf die Kanadierin waren wir übrigens die einzigen weiblichen Gäste; schliefen also mit 9 Männern im 12-Bett-Zimmer. Und wo ich gerade vom Zimmer erzähle: Irgendwann gegen neun Uhr kam Aricio, der Hostelbesitzer, nach Haus, auf seinem Rücken die Einzelteile eines sechsten Hochbetts, dass für Ingrid und mich noch aufgebaut werden sollte. Der kleine, aber äußerst handfertige Brasilianer, ein befreundeter Ukrainer du ich machten uns also daran, dass Bett aufzubauen. Nach kurzer Zeit fiel auf, dass die Bauteile nicht zusammenpassten, also alle Steck-Vorrichtungen neu gebohrt und gesägt werden mussten. Insgesamt brauchten wir also eineinhalb Stunden, um zumindest den unteren Teil des Bettes zusammenzubauen. Ingrid schnarchte währenddessen friedlich daneben auf dem Teppichboden. Endlich fertig, überredete uns Aricio dann trotzdem noch, zusammen mit den anderen Hostelgästen in eine Bar zu kommen, wo Besitzer und Gäste eines anderen Hostels auf uns warten würden. Es sei gleich um die Ecke.
Nun ja, nach einer halben Stunde Fußmarsch erreichten wir dann 'die Bar um die Ecke'. Aber der Weg hatte sich gelohnt, wir lernten wieder neue, weltoffene Leute kennen und führten Gespräche über alles und jeden. Als ich aber nach etwa einer Stunde schon im Sitzen einschlief, kehrten wir dann doch ins Hostel zurück und fielen sofort in tiefen Schlaf.
Die beiden Jungen erwachten am nächsten Morgen davon, dass schon geschäftiges Treiben in der Herberge herrschte. Sie hüpften aus ihren Betten, zogen sich an und huschten in die Küche, wo der Herbergsvater und seine Frau für alle ein einfaches, aber gutes Frühstück bereithielten. Dann machten sie sich auf, wieder in Richtung Palastanlage, wieder hinein in die Welt der prunkvollen Fassaden. Es hatte ein wenig geschneit über Nacht, und jetzt lag alles ich puderzuckrigem Weiß, das in der Sonne funkelte. Vergnügt stapften die beiden Jungen die Fenster entlang, diesmal in eine andere Richtung; und erreichten schon bald das Ziel, dass ihnen als Herz des Palastes in Erinnerung bleiben sollte.
Für das Betreten des Areals der Sophienkathedrale verlangte der ukrainische Staat 20 Griwna. Zuerst ein wenig abgeschreckt von dieser Summe (nun gut, es sind nur zwei Euro, aber wir sind ja bekanntlich arme Freiwillige), bezahlten wir schließlich doch: Und waren froh, dass wir uns diesen Anblick nicht hatten entgehen lassen. Schon von außen war die Kirche beeindruckend; von Schnee umgeben und in der Sonne glitzernd wie im russischen Bilderbuch. Aber der Höhepunkt und sicherlich Grund für die Erklärung der Kirche zu UNESCO-Weltkulturerbe war die innere Gestaltung der zweistöckigen Kirche.
Jeder Quadratzentimeter der hohen Wände war entweder mit Fresken oder Mosaiken geschmückt, teilweise noch aus dem 14. Jahrhundert. Natürlich war das Fotografieren verboten, aber es hätte auch keine Fotografie den Eindruck vermitteln können, den diese Kirche auf uns machte. Wir blieben sehr lange, sahen uns alles an, und konnten trotzdem kaum etwas von dieser Ballung an Kunstwerken aufnehmen, die sich uns bot. Ein weiteres, allerdings höchst modernes Highlight bot sich uns noch in einem der Nebenräume der Kirche. Eine ukrainische Künstlerin hatte ein riesiges Mosaik gestaltet, das das Gesicht der Maria zeigt. Aber nicht etwa aus Steinen; nein, aus unzähligen handbemalten Ostereiern! Was für eine Idee, und welch eine filigrane, farbenfrohe Umsetzung!
Der kleine Junge und sein Freund traten still und voller Eindrücke aus der großen Kirche. Sie liefen noch etwas im glitzernden Schnee umher, dann aber traten sie hinaus aus den heiligen Mauern. Gerade wollten sie eine Pause einlegen, doch da glitzerten ihnen auf der anderen Seite des riesigen Hofes, auf dem sie standen, hohe blaue Türme mit großen goldenen Kuppeln entgegen. Es sah so märchenhaft aus, dass sie es nicht erwarten konnten, auch diesen Ort zu bewundern.
Als Ingrid und ich den großen Platz vor der Sophienkathedrale überquert und die breite Straße hinunter den nächsten großen Platz erreicht hatten, standen wir auch schon vor der Kirche, die wir schon von Ferne strahlen gesehen hatten: Die Michaelskathedrale. In Himmelblau getüncht ist sie wohl die äußerlich schönste Kirche; insbesondere, wenn sie wie an jenem Tag in der Sonne strahlt und von frischem Schnee umgeben ist. Von innen war auch sie vollkommen bemalt, allerdings ganz neu. Dies war für uns beide (mit von der Sophienkathedrale verwöhnten Augen) dann nicht mehr ganz so beeindruckend. Dennoch verweilten wir auch hier lang und beobachteten die Gläubigen bei ihrer sonntäglichen Gebetsprozedur. Einige beteten mit großer Inbrunst zu jedem Heiligen, andere wiederum kauften nur schnell zwanzig Kerzen für die zwanzig Heiligen, steckten sie vor den Bildern an, gaben den Heiligen noch einen lieblosen Schmatzer und verließen dann flugs wieder die heiligen Hallen. Auch die Priester waren sehr geschäftig: In einer Ecke sammelten sie Essen auf einem großen Tisch. Zunächst vermuteten wir einen in Kürze stattfindenden Kochkurs für das letzte Abendmahl, kamen aber dann aber doch auf den wahrscheinlicheren Grund, dass jenes Essen an die Bedürftigen verteilt werden würde.
Nach ausgiebiger Beobachtung verließen wir dann wieder die Kirche und machten uns zum nahe gelegen zentralen Platz der Stadt auf. Der sogenannte Platz der Unabhängigkeit war umsäumt von Häusern, die an einen norddeutschen Rathausplatz erinnerten und gekrönt von einem Monument, die sehr stark an die Berliner Siegessäule erinnerte. Von Erinnerungen an mein Heimatland beflügelt, genoss ich umso intensiver die Sonne, das Vogelgezwitscher und die immer mehr nach draußen strömenden, sonnenhungrigen Menschen.
Die beiden Jungen saßen mitten auf dem großen Hof, ließen sich die Sonne auf den Bauch scheinen und beobachteten genüsslich das Treiben um sie. Sie erwarteten einen Freud, ebenfalls ein Ausreißer, der seit heute irgendwo im Palastgelände war und sie hier treffen sollte. Kurz darauf kam er auch schon, wie immer etwas zu spät und in großer Eile. Aber nun, da er seine beiden Freunde gefunden hatte, fand er seine Ruhe wieder und forderte die beiden auf, ihnen zu einem versteckten Ort zu folgen, wo man hervorragend Speisen könne. Viele dieser versteckten Orte gäbe es hier, er kenne sich aus im Palast, er war schon öfter hier. In diesem majestätischen Areal müsse man immer in den oberen Stockwerken oder unter Tage suchen, erst dann fände man die tollsten Plätze. Nicht lang danach stiegen die drei eine lange Treppe hinunter in vielversprechend duftende Räumlichkeiten.
Karin, die am Morgen angereiste Freiwillige, führte uns in eine riesige Kantine, wie es sie in der Stadt zu Hauf gäbe. Für wenig Geld konnte man hier aus unzähligen Suppen, Gemüse- und Fleischsorten, Beilagen, Kuchen und Getränken wählen. Die Kantine war stark gefragt, alle Tische der fünf großen Räume waren belegt. Wir hatten Glück, denn gerade verließ ein Pärchen einen Tisch ganz in der Nähe der Kasse. Dann probierten wir uns genüsslich durch all die Dinge, die wir blind gewählt hatten. Ich hatte leider zweimal Pech, den zwei meiner Köstlichkeiten waren mit einem äußerst abscheulichen Hackfleisch gefüllt. Aber sonst schmeckte alles prächtig. Und weil unser Essen so schnell verputzt war, wir aber noch viel zu erzählen hatten, führte uns Karin direkt danach in eine Stadt-typische Bierbar. Dort bestellten Ingrid und Karin ein großes Bier und in Knoblauch getränktes Brot. Ich jedoch hielt mich ans Süße und belud meine Hüften mit hintereinander zwei großen Sahne-Vanilleeis-Shakes, ein Gaumenschmaus übrigens. Nach insgesamt vier Stunden heiteren Plauderns verabschiedeten wir uns dann voneinander und machten uns auf getrennte Heimwege.
Als die Jungen zurück zur Herberge liefen, war es schon dunkler, sternenklarer Abend. Der Palast wirkte jetzt geheimnisvoll und leuchtete von Fackeln angestrahlt die in den schwarzen Himmel. Noch immer war der Hofstaat auf den Beinen, doch die Jungen bekamen von dem treiben kaum etwas mit; so fasziniert waren sie von den gelblich schimmernden hohen Fassaden, deren Stuck weite Schatten auf die Wände warf.
Als Ingrid und ich im Hostel ankamen, war die kleine Küche vollgestopft mit hungrigen Menschen. Aricio hatte für alle Gäste brasilianisch gekocht (ich unterstreiche an dieser Stelle als deutscher geiziger Mensch bewundernd, dass es nicht nur Frühstück umsonst gab, sondern an diesem Tag auch noch Abendbrot!). Es gab rote Bohnen, Mais in Sahnesoße, Reis mit Pilzen und Geflügel in Honig gebraten. Und es klingt nicht nur so, es schmeckte auch vorzüglich. Satt und zufrieden rollte Ingrid sich dann unsozialer Weise ins Bett; ich hingegen stimmte natürlich dem Plan der anderen Gäste zu, noch in eine Bar zu gehen. Eine Stunde später saß ich also mit zehn gestandenen Kerlen in einer Bar; holla die Waldfee. Aber ich bekam kaum meinen einen Wein alle, während bei den anderen das Bier literweise floss.
Nicht etwa, weil ich so müde war, sondern weil die Herren einfach so ernsthaft spannende Dinge aus ihrem Reiseleben erzählten, dass ich den Alkohol vollkommen vergaß. Irgendwann aber übermannte alle die Müdigkeit, und wir liefen mit großem Angetrunkene-Männer-Mitte-Zwanzig-Trara zurück zum Hostel. Ich sehnte schon mein ruhiges, warmes und friedliches Bett herbei – aber zu früh gefreut. Zwar kam ich schnell ins Bett und die anderen schliefen schnell ein aber man bedenke: Der Abend hatte den Konsum von Bohnen, Mais und Bier beinhaltet. Um mich rum furzte und schnarchte es also wie in einer Soldatenkaserne, Ingrid dank ihrer Erkältung am lautesten von allen. Schön, dass ich auch noch oben lag, und die ganze Luft in meine Höhen stieg. Naja, zumindest war es in der Nacht schön warm im Zimmer.
Am nächsten Morgen erwachte ich mit einer ziemlichen Birne, was nicht größtenteils an der hervorragenden Luft im Zimmer lag. Aber das Frühstück mit Ingrid und einem anderen deutschen Studenten, der gerade aus Odessa gekommen und ein ziemlich schräger Vogel war, munterte mich auf und weckte erneut meine Erkundungslust.
An diesem Tag machten sich die Jungen zum letzten Mal in den Palast auf. Sie sahen den riesigen weiß getünchten Trakt, in die Berater des Königs wohnten. Bis auf diese Tatsache und seine enorme Größe war das Haus aber auch recht langweilig. Ihm gegenüber jedoch stand ein gar merkwürdiges Haus: Sein Dach und seine Fenstersimse waren geschmückt mit Skulpturen von Fröschen, Nashörnern, Nixen und anderen fantastischen Geschöpfen. Es hing auch mehr, als es stand: Das Haus war an einen Abhang gebaut, sodass es vorn nur drei Etagen, nach hinten hinaus aber drei weitere in den Abhang hängende Stockwerke. Die Jungen hörten, dass es das Haus der Chimären sei; wussten aber nicht so recht, was das war. Sie bewunderten noch einmal die Frösche, die vom Dach her auf sie hinabblickten, dann treib die Kälte sie auch schon weiter. Das Haus des Königs wollten sie noch sehen. Tatsächlich war sein Heim ein Palast im Palast, mit zwei langen Seitenflügel, die wie die Kathedrale mit den goldenen Kuppel blau bemalt und weiß verziert waren. Und wie sie so davor standen, entdeckten sie eine Nahe Brüstung, von der man von der Palastmauer über den Wassergraben hinweg schauen konnte. Sie kletterten hinauf und sahen die Welt hinter dem Graben:
Der Anblick des Arbeiterviertels auf der anderen Seite des Flusses Dnjepr, der am Stadtzentrum entlangfließt, nahm der Stadt kurzzeitig jeden Zauber. Große sowjetische Wohnblöcke, bröcklig und schmutzig wie in Chisinau, weit ab vom schönen Schein am anderen Ufer. Eine Weile betrachteten Ingrid und ich etwas gedankenverloren dieses andere Bild der Stadt; uns wieder dessen bewusst werdend, dass jede Stadt dies den Touristen lieber nicht zeigt. Auch hier fühlte ich mich wieder arg an Berlin erinnert. Aber ganz nahm uns dieser Anblick die Faszination nicht, wohl aber die Kälte die Muße des weiteren Anblickens, weswegen wir uns schnurstracks zum nächsten Eingang des Untergrund-Kaufhauses aufmachten, um uns dort die Füße zu wärmen und Geld loszuwerden. In einem Deko-Laden fand ich das passende Müll-Geschenk für Rosi und für uns beide je eine Sonnenbrille in sagen wir mal außergewöhnlichem Design. Ingrid besitzt jetzt jedenfalls eine Brille in Batman-Optik und ich bin stolzer Besitzer einer großen violetten Rundglas-Brille, an der Diskokugel baumeln. Auch an den Kleidergeschäften kamen wir nicht vorbei, sodass mein Kleiderschrank jetzt um drei Oberteile reicher ist. Nach unserer Shoppingtour mussten wir uns erst einmal mit Geld für die Rückreise ausstatten, dann ging es zurück zum Hostel, um die nächtliche Heimreise vorzubereiten.
Ein bisschen wehmütig waren die beiden Jungen schon, als sie in der Herberge ihre Beutel für die Heimreise packten. Der Ort war ihnen ans Herz gewachsen, so wie man es ihnen prophezeit hatte. Doch sie mussten zurück, noch ehe es zu großen Ärger geben würde. Sie saßen noch eine Weile in der kleinen Küche, dann aber drängte die Zeit zur Heimreise. Den Weg zur Postkutsche hatte man ihnen beschrieben, und so machten sie sich ein wenig traurig dahin auf. Leider schienen sie sich nach kurzer Zeit völlig verlaufen zu haben in der Welt außerhalb des Palastes. Aber sie trafen einen netten Mann, der sich ihrer annahm und ihnen den Weg zur Postkutsche zeigte; der sich übrigens als so verwinkelt und lang herausstellte, dass sie ihn allein sicher nie gefunden hätte. Aber einige Stunden später saßen sie dann auch schon wieder in der Kutsche und die Pferde trabten los in die sternenklare Nacht.
Ingrid und ich wollten gerade die Augen schließen und in uns unseren Träumen überlassen, als uns ein etwa 50-jähriger Mann, der hinter uns saß, auf unsere Herkunft ansprach. Er war sehr nett und höflich, und so kamen wir ins Gespräch. Es stellte sich heraus, dass er Gastarbeiter in Holland war, wo er als Trompeter im Zirkus Renz arbeitete. Ingrid (aus Holland) unterhielt sich angeregt über seine Arbeit, und nach zehn Minuten hatte er uns in sein väterliches Herz geschlossen. Wir sollten ihn doch anrufen, wenn wir Probleme hätten und uns vorsehen, Chisinau sei gefährlich für junge Mädchen. Wir versprachen ihm äußerste Achtsamkeit, dann verzog ich mich auf einen leeren Zweiersitz weiter hinten.
Gerade wollte ich wieder die Augen schließen, da drehte sich ein junger Moldawier, der vor mir saß, zu mir um und begann ein Gespräch. Ebenfalls ein netter und höflicher Mensch, und so entstand ein ebenso netter Plausch. Er erzählte mir von seinen vielen Reisen überall dahin, wo man als Moldawier hinkonnte: Russland und Aserbaidschan waren darunter, aber kein Land der EU. Ich erzählte ihm von meinem Freiwilligendienst und von meinen Sprachbarrieren, wie gern ich das moldawische Obst mochte und so weiter. Auf einmal kam der Trompeter von den vorderen Sitzen zu mir, der offensichtlich schon Vatergefühle und Beschützerinstinkt entwickelt hatte, und fragte, ob ich irgendwelche Hilfe wegen des Herren vor mir benötigte. Ich lehnte dankend ab. Er ging wieder, wir unterhielten uns weiter, doch schon zehn Minuten später kam er wieder und fragte erneut. Der Student vor war sichtlich verärgert darüber, hielt sich aber zurück. Ich dankte nochmals und versicherte, dass mir bei diesem Gespräch nichts passieren würde. Wir unterhielten uns weiter.
Währenddessen wurde es im Bus immer kälter, denn der Busfahrer stellte die Heizung nicht, um selbst wach zu bleiben. Ich fror ziemlich arg, der Student vor mir bemerkte es, und kurz darauf saß ich mit seinem Schal und seinen Handschuhen bestückt in meiner Ecke. Plötzlich kam wieder der Trompeter, legte mir seinen Mantel über, meinte noch auf Russisch, ich solle jetzt besser schlafen, und drohte dem Studenten vor mir, mir ja nicht zu nahe zu kommen. Mir ging das männliche Gehabe der beiden allmählich schon ziemlich auf den Nerv. Also versuchte ich tatsächlich zu schlafen, und als im Bus endlich alles still war und alle schliefen, legte ich dem Trompeter seinen Mantel wieder über und verzog mich dann möglichst schnell wieder in meine Ecke. Schon wähnte ich mich in schlafender Sicherheit, als der Student vor mir mich weckte.
Wir waren an der transnistrischen Grenze, und der Grenzbeamte forderte mich auf, zum Kontrolleur zu kommen. Na klasse, dachte ich, was habe ich denn nun verbrochen. Ich erwartete schon ein lächerliches Verhör weil sie irgendwas in meinem Trekkingrucksack vermuteten, aber nein: Im Grenzhäuschen saß ein grinsender Beamter mit drei Zähne und fragte mich auf Russisch, ob in meinem Pass ein Fehler sein, weil da so ein komischer Buchstabe in meinem Nachnahmen stünde. Danke für das 'ß', liebe Vorfahren. Nein, sagte ich, und erklärte ihm, dass dies ein deutscher Buchstabe für 'ss' sei, den es auch nur in unserem Land gäbe. Der Grenzbeamte lauschte überraschend interessiert, entschuldigte sich dann noch, mich geweckt zu haben, drückte mir den Pass in die Hand und entließ mich wieder. Wer hätte das gedacht, dass mir der erste nette Grenzbeamte an der transnistrischen Grenze begegnen würde.
Die ersten Sonnenstrahlen kitzelten an der Nase des kleinen Jungen, als die Postkutsche sein Heimatdorf erreichte. Hier lag kein Schnee mehr, es war fast ein wenig warm. Die Postkutsche hielt, die Jungen sprangen hinunter und machten sich auf den Heimweg. Was es doch für ein schöner Winterabschied war, sagten sie beide, und gerne wollen sie beide noch einmal zu dem großen Palast fahren. Irgendwann im Sommer möchten beide noch einmal nach Kiew.