Der große Mann am Bosporus - der Aufstieg des türkischen Staatspräsidenten Erdogan
Wahrscheinlich hat niemand die Türkei so umgestaltet wie Atatürk - und Recep Tayyip Erdogan. Gefürchtet, geliebt und gehasst: die Geschichte einer ambivalenten Figur
Seine Hartnäckigkeit und sein unermüdlicher Ehrgeiz verweisen zurück auf eine schwere Vergangenheit, als Sohn eines Seemanns aus den Armutsvierteln Istanbuls: um zu dem kargen Familienalltag etwas beizutragen, verkaufte er als Junge Süßigkeiten und Wasser auf der Straße. Wie Erdogan immer wieder selbst betont, wurde er oft auch körperlich gezüchtigt und lernte dadurch die harte Schule des Lebens. Dass er aus armen Verhältnissen kommt, verheimlicht er nicht, ganz im Gegenteil: Er nutzt es zur Selbstinszenierung, er hält damit den Bezug zu den unteren Gesellschaftsschichten und gewinnt an Sympathie - als der, der es von ganz unten geschafft hat.
Als Jugendlicher begann seine politische Karriere unter dem Einfluss der „Islamischen Nationalen Heilspartei“ und dessen Gründer Necmettin Erbakan. Bald hielt er bereits den Vorsitz der Jugendorganisation inne und verkündete die Parteiparolen von einem „Gottesstaat“ und der „Rettung durch den Islam“. Erdogan besaß rhetorisches Talent und ein politisches Gespür: Er erkannte früh, dass Politik sein Weg aus der Armut sein könnte, er sah die Relevanz von persönlichen Netzwerken und fing dort bereits an, potentielle Gegner strategisch gegeneinander auszuspielen - trotzdem hätte niemand ahnen können, welchen Einfluss dieser Junge aus einfachen Verhältnissen noch haben würde.
1994 dann wurde er tatsächlich zum Oberbürgermeister Istanbuls, der informellen Hauptstadt der Türkei, gewählt und revolutionierte die Stadt: Er löste viele Probleme der Metropole, so zum Beispiel die Müllabfuhr, Abwassersysteme, errichtete mehr Grünflächen und bekämpfte die Korruption in staatlichen Institutionen. Auf der anderen Seite war er immer noch islamisch-konservativ, was er auch offen verkündete und die liberalen Eliten des Landes beunruhigte.
Erdogans Karriere schien ein überraschendes Ende zu nehmen, als seine Partei in den 90er Jahren verboten wurde und auch Erdogan selber wegen Volksverhetzung verurteilt wurde. Ironischerweise setzten sich damals sogar die Menschenrechtsorganisation Amnesty International für seine Freilassung ein: https://www.facebook.com/amnestyglobal/videos/1591142024231997/
Diese Niederlage nutzte er allerdings wieder zu seinen Gunsten: Er inszenierte sich als Opfer von anti-islamischer Diskriminierung, und mobilisierte dadurch die religiöse Bevölkerung. So gelang seiner neubegründeten Partei, der AKP, 2002 ein überwältigender Sieg, welcher eine neue Phase politischer und wirtschaftlicher Stabilität einläuten sollte. Mit seinem Sieg brach er mit dem kemalistischen Establishment und der Wirtschaftselite, er war einer von den kleinen „schwarzen“ Türken, der die Staatsmacht eroberte.
Erdogans Erfolg bedeutete auch einen gesellschaftlichen Umbruch: Nach Atatürk wurde die Türkei streng laizistisch, also säkular geführt, sogar das öffentliche Tragen eines Kopftuchs war verboten. Heute ist Teil des Alltagsbildes, dass sich manche Frauen bedecken, auch in öffentlichen Institutionen oder in der Politik. Viele praktizierende Musliminnen trugen daraufhin Perücken, um ihrer Religion und dem Staat gerecht zu werden. Erdogan repräsentiert die post-moderne muslimische Intelligenz und dominiert den gesellschaftlichen Alltag, das Stadtbild und die Bildung.
Für uns ist es heute kaum vorstellbar, aber Erdogan war lange ein Hoffnungsträger des Westens, ein Reformist, der den europäischen Integrationsprozess der Türkei vorantrieb. In diesem Sinne veranlasste er viele Gesetzesänderungen hin zu liberaleren Reglungen, beispielsweise für Kurden*innen. Viele Beobachter kritisierten aber bereits damals, dass Erdogan seine Ideologie nicht aufgeben würde und nur das Reformieren mimt. Und tatsächlich fiel diese freundliche Maske in den folgenden Jahre immer weiter ab: Gesetze verschärften sich wieder, es wurde sich eher gen Osten gewandt, die politische Opposition unterdrückt und Andersdenkende systematisch diskriminiert…
Ich halte es persönlich für sehr wichtig, auch Personen wie Erdogan immer differenziert und in ihrem Kontext zu betrachten, erst dann kann man die politische Situation in ihrer Tiefe verstehen.