"Das ist Walter!" V
Eine Reise in die bosnische Multikulti-Hauptstadt Sarajevo ist mehr als nur ein normaler Städtetrip. Blüte des osmanischen Reiches, Mord an Franz Ferdinand, grausamer Inbegriff des Jugoslawienkrieges - an kaum einem anderen Ort in Europa verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart so wie hier. Bericht über die Rückkehr in meine neue zweite Heimat, die sich so gar nicht mit anderen Städten vergleichen lässt.
Warum man Sarajevo und seine Einwohner nur lieben kann
Und heute? Erholt sich eine Stadt mit den tiefen Narben tausender Getöteter von der Krankheit namens Krieg wie unser Körper von heftigen Fieberattacken? Die Sonne verschwindet hinter einer dicken Wolkendecke, die sich, langsam den Gipfel des Trebević überquerend, über die Dächer der Altstadt legt. Ein Blick auf die Uhr verrät den Anbruch der sechsten Stunde, ich setze meinen Spaziergang über verwitterte Treppen nach Bistrik fort. Die Sterne von Sarajevo beginnen mit zunehmender Dunkelheit wie jeden Abend zu leuchten, durch unzählige Fenster und Türen strahlen die Lichtkegel aus Wohnzimmern auf die belebten Straßen hinaus. Das Gebell der Straßenhunde vermischt sich mit den Rufen der Muezzins zu einem ungefähren Eindruck, wie diese Stadt in den Köpfen seiner Besucher einen Samen vergräbt, bloß nur noch warten muss, bis dieser zur Sehnsucht nach der Ferne gedeiht und uns nach einiger Zeit jene Erinnerungen an das Getümmel der Baščaršia wie reife Früchte mit einem unbeschreiblichen Glücksgefühl verzaubern. Aus den Radios kleiner Autowerkstätten suchen sich die blechernen Melodien alter Lieder ihren Weg auf die stickigen Gassen, aus der nächsten Kneipe dringt das Gefühl betrunkener Atmosphäre bei Backgammon und Zigaretten nach außen, irgendwo jagt eine kleine Gruppe von Kindern einer schwarzen Katze hinterher, über den Köpfen eines belebten Kaffeehauses hüllt das warme Licht der Laternen Mauern und Straßen in ein abendliches Gewand, um sie nicht der Gestalt der Dunkelheit preiszugeben. Die Normalität des Lebens hat sich nicht nur trotz, sondern gerade wegen der düsteren Vergangenheit wieder über Sarajevo ausgebreitet.
"Sie sehen, Sarajevo hat ein neutrales Geschlecht. Genau wie ein Kind - verspielt, einfach, naiv, leichtgläubig, kindisch…. Deshalb ist es immer das erste, das seine Hände ausstreckt…"
Der legendäre serbische Sänger Đorđe Balašević über den Charakter Sarajevos
Das ist weit weniger selbstverständlich, als es auf den ersten Blick scheint und spiegelt sich weniger in den beseitigten Kriegsschäden als in der nach wie vor unerschütterlichen Mentalität von Sarajevos Einwohnern wider. Leid, Tod und Zerstörung gehörten im Laufe der vergangenen Jahrhunderte immer zur wechselhaften Stadtgeschichte, doch wie so oft in seiner Chronik entging Sarajevo der scheinbar endgültigen Auslöschung. Weder der Feldherr Eugen von Savoyen, welcher 1697 im Zuge des Großen Türkenkrieges die kleinen Basarstraßen anzünden und in Sarajevo nichts als Asche übrig ließ, noch die mörderischen Attacken der Faschisten im Zweiten Weltkrieg - ganz zu schweigen von der vierjährigen Belagerung und der längsten Luftbrücke, die die Menschheit bis dato erleben musste - konnten den Mut einer ganzen Stadt brechen. Das renommierte Filmfestival von Sarajevo ist so ein Beispiel für jene mutige Haltung, erwuchs während der Belagerung aus den Trümmern der alten Hauptstadt aus Trotz gegen den Krieg zu einem der größten seiner Art in Europa und treibt jedes Jahr Tausende von Beinen durch die lauen Augustnächte der Baščaršia. Eine Stadt und ihr teils sturer, teils stolzer Charakter, kaum besser beschrieben als in der
Schlussszene des Films "Valter brani Sarajevo", jugoslawischer Partisanenfilm - kann ein Streifen mehr Kultstatus erreichen? - aus den 70ern: Unmöglich erscheint es dem SS-Kommandanten von Dietrich, jenen ominösen Walter ausfindig zu machen, der sich als Kopf einer Widerstandsbewegung gegen die erbarmungslosen Nazi-Truppen versteht. Die Schlussszene des kultigen Films sollte sich später nochin den Namen zahlloser Klubs, Restaurants, Musikalben finden, als von Dietrich über den Dächern der Stadt sinniert, weshalb er bei der Jagd auf Walter keinen Erfolg verzeichnenkonnte. "Jetzt, wo ich gehen muss, weiß ich, wer Walter ist." - "Sie wissen, wer Walter ist? Sagen Sie mir sofort seinen wahren Namen!" - "Ich werde ihn Ihnen zeigen. Sehen Sie diese Stadt? Das ist Walter!" Eine Stadt, welche die Hölle mehrfach durchqueren musste, schreckt vor nichts mehr zurück, lässt sich auch in den dunkelsten Zeiten in die Ecke gedrängt nicht unterdrücken oder um die Worte Ivo Andrićs zu benutzen:
"Wenn Sie Sarajevo zu jeder Tageszeit von einem umliegenden Hügel betrachten, werden Sie unweigerlich immer wieder zu demselben Ergebnis kommen. Es ist eine Stadt, die sich abnutzt und stirbt und doch gleichzeitig wiedergeboren und verwandelt wird. Heute ist es die Stadt unserer schönsten Sehnsüchte und Bemühungen und mutigsten Wünsche und Hoffnungen."
Ich ziehe meine Jacke zu, ein kühler Novemberwind weht um die schmalen Häuser von Bistrik, die Sonne entschuldigt sich nun gänzlich für ein paar Stunden und versteckt sich bis zum nächsten Morgen irgendwo hinter den Tannenwäldern von Igman und Bjelašnica. Ein letzter Blick auf die beleuchteten Adern der Baščaršia und ich verschwinde im Inneren eines kleinen Gasthauses, das verloren im Labyrinth der Umgebung meinen letzten Abend in Sarajevo einläutet. Der Raum ist gefüllt mit sich laut unterhaltenden Kartenspielern, dichten Rauchschwaden und schwarz-weißen Fotos, die Sarajevo aus einer längst vergangenen Perspektive zeigen. Vučko, das immer noch omnipräsente Maskottchen der Winterspiele von 1984, grinst Skier in den Händen haltend auf meinen Tisch herab. Neben dem nostalgischen Wolf gibt ein beschlagenes Fenster gleich einem Gemälde den Blick auf die gefährlich dunkel, alle Lichter verschluckenden Hänge des Trebević frei, lautlos bewegen sich nur gleichmäßig die erleuchteten Gondeln der Seilbahn; von der pulsierenden Innenstadt startend, schwebt sie geräuschlos über die immer schmaler und steiler verlaufenden Straßen und Gassen von Bistrik, gewährt auf ihrem Weg zu den herrlichen Wäldern auf dem Gipfel des Trebević einen Blick auf die Stadt sowie deren Ausläufer in die umliegenden Täler, welchen man kaum in Worte fassen könnte, weil jede Beschreibung und alle Vergleiche nicht einmal annähernd der Wahrheit entsprächen, um die Kulisse und Ausblicke treffend zu beschreiben. Wie genoss ich doch jede einzelne Fahrt, im Herbst, wenn die in rötlicher Farbe verwelkten Laubblätter den Berghang unterhalb der Gondel brennen ließen, im Winter, als ich mich staunend fragte, wie sich wohl das raue Leben der Bewohner in den einsamen, hoffnungslos eingeschneiten Bergdörfern am Horizont anfühlen muss oder während der Sommermonate, um der stickigen Dunstglocke in Richtung Sarajevos grüner Lunge zu entfliehen.
"Die Normalität des Lebens hat sich nicht nur trotz, sondern gerade wegen der düsteren Vergangenheit wieder über Sarajevo ausgebreitet"
Außer Vučko, dem Gemälde des Trebević - zeitgenössisch im von Zigarettenrauch vergilbten Fensterrahmen festgehalten - und den Aufnahmen belebter Marktszenen, erregen die überkreuz an der Wand hängenden Skier sowie die verblichenen Schnappschüsse von rasenden Bobfahrern meine ganze Aufmerksamkeit. Noch heute schlängelt sich Kilometer um Kilometer die mit Graffitis bemalte Bobbahn durch den dicht bewaldeten Berghang des Trebević, lässt bei einem Spaziergang entlang der sich windenden Rennstrecke Vergangenes erneut aufleben, als ob die goldenen Jubelschreie der ostdeutschen Bobfahrer immer noch im Wind zu hören sind. Auf die "besten Spiele aller Zeiten" (so der Präsident des Olympischen Komitees) folgten die unerbittlichen Kämpfe; an den Sportstätten, wo 1984 noch Medaillen vergeben und weltweit an den Fernsehgeräten mitgefiebert wurde, verschanzten sich keine zehn Jahre später bosnisch-serbische Freischärler, starteten im Schutz der Bobbahn Granaten auf ihrem tödlichen Weg ins Tal. Noch heute erzählen die mit Unkraut bewachsenen und verrosteten Skisprungschanzen auf dem Igman die traurige Geschichte der letzten vier Jahrzehnte; freudig über die Zeit, als noch die Athleten jeglicher Herkunft über die Schanze flogen, flüsternd über ihre Zerstörung im Krieg, schweigend und vermint in diesen Zeiten, die ehemaligen olympischen Sportstätten gehören zu den gefährlichsten Orten auf europäischem Boden.
Zurück in die muntere Gaststube, es riecht nach halbvollen Bierkrügen, der Qualm schreibt in einer fremdartigen Sprache undeutliche Wörter in die warme Luft. Trotz aller Schicksalsschläge grinst Vučko jedenfalls ob seiner nicht enden wollenden Sympathie vor Freude und jault stumm auf Postkarten, aufgenäht auf Taschen oder gemalt auf Magneten seit 36 Jahren ohne zu verstummen. Zum wohl beliebtesten Wolf des Balkans gesellt sich auf der Wand schräg gegenüber der berühmte Tito, zündet sich gerade eine Zigarre an und beobachtet die von lautstarken Flüchen begleiteten Kartenspiele. Das Radio scheint die umgebende Nostalgie des kleinen Raumes voll wahrzunehmen, als ob es mit Fleisch und Blut am Tresen sitzt und nach ausgelassener Stimmung schreit, um unmittelbar ein Lied nach dem anderen der großen, jugoslawischen Rockbands anzustimmen. Werden doch Zeitreisen oft als eine physikalische Unmöglichkeit belächelt, trotzt diese verrauchte Taverne allen Gesetzen der Natur und lässt die wilden Jahre der 1970er und 80er wieder aufleben, als sich Sarajevo zum kulturellen Epizentrum Ex-Jugoslawiens erhob, die großen Sarajevoer Musikgruppen wie Bijelo Dugme Zehntausende zu Konzerten in Belgrad oder Zagreb lockten, sich die Gruppe Indexi um ihren unvergessenen Sänger Davorin Popović zu den "Beatles des Balkans" sang und spielte, FK Željezničar die jugoslawische Meisterschaft nach Sarajevo holte oder basketballbegeisterte Fans staunend auf den Košarkaški Klub Bosna blickten, der 1979 die Europaliga gewann und Sarajevo zum europäischen Olymp des Basketballs aufstieg. Diese Zeiten sind vorbei, zu einem Abschluss gekommen sind hingegen keineswegs die Erinnerungen, unwiderruflich ins kollektive Gedächtnis gebrannt wie der Funken in einem Ballen Heu.
"Die Menschen von Sarajevo: intelligent und primitiv, gierig und schön, müde und jung, sehr jung und verrückt, reich und elend, gesund und krank, stark und abgenutzt, temperamentvoll und gelassen, zweifelhaft und genial, die Diaspora und Straßenpunks, Fans von Željo und Sarajevo, Kinder und Erwachsene, treu und untreu, mächtig und fromm - insgesamt fast vierhunderttausend Stadtatome. Und um ehrlich zu sein, es gibt kein Ende davon. Entweder du liebst Sarajevo oder du liebst es nicht."
Der bosnisch-amerikanische Schriftsteller Aleksander Hemon über seine Heimatstadt
Abschiede sind niemals leicht, besonders nicht, wenn man einen Ort verlässt, anfangs unverständlich und fremd, mit der Zeit jedoch zu einem zweiten Heimatplatz im Herzen, zu mehr als bloß irgendeiner Stadt in den bosnischen Bergen geworden. Meine Gedanken an den hinter mir liegenden Tag schwirren unter der Decke durch den Raum und bringen mich in ein langes Gespräch mit den Tischnachbarn, die sich eine erste Pause von gestenreichen Kartenspielen nehmen. Wahrscheinlich ist eine winterliche Autofahrt durch die verschneiten Gassen von Vratnik leichter, als nicht in den Gesprächssog der Einheimischen gezogen zu werden, denke ich mir und stoße zum wiederholten Male an. Können Städte Menschen machen? Oder machen doch eher Menschen Städte? Sarajevo ohne seine Gastfreundlichkeit, das kommt am ehesten einem Burek ohne Fleisch gleich, wie Freunde mir oft zu erklären pflegten. Die letzten Gläser leeren sich, ein weiterer Abend verstreicht wie so oft unter den Dächern Sarajevos viel zu schnell, die Zeit verliert ihre Bedeutung und weicht dem bloßen Augenblick. Mittlerweile ist es still geworden auf den Straßen, verabschiede mich von der neu gewonnen Bekanntschaft, werfe einen letzten Blick auf das hinter mir liegende Kleinod bosnischer Mentalität und gehe - nicht zum letzten Mal - hinaus in die Dunkelheit, mit einem Lächeln in Richtung der erleuchteten Stadt.
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