Dachterrasseninspirationen
Eine Geschichte über ein Erasmus-Jahr in das sich Philosophie hinein schlich
Für die nächsten Minuten nehme ich euch in eine sonderliche Welt mit, eine die von langen Gesprächen über Philosophie, Ethik und Politik handelt. Es ist keine Geschichte einer großen Liebe, auch nicht die einer langlebigen Mädelsfreundschaft; vielmehr ist es eine Geschichte über Inspiration, über Desillusion, über die Dichomatie von Idealismus und Realismus, über Objektivität und Subjektivität. Über Inspiration. All das mag womöglich nicht nach dem typischen Erasmus in Madrid klingen. Meine Freunde glaubten, dass Erasmus in Spanien mit wilden, exzessiven Parties gleich zu setzen sei. Doch Teil meines Erasmus sind die eben genannten Themen, die vielen vagen Begriffe, deren Definitionen leeren Hüllen fragwürdiger Konzepte ähneln.
Wir wohnen zu dritt in unserer kleinen, doch sehr spanischen, Wohnung. Unser Juwel, die Dachterrasse, ist der wohl beliebteste Ort, der von uns und unseren Freunden selbst in den Wintermonaten zum Chillen und zum Beerpong verwendet wird. Neben meiner französischen Mitbewohnerin, wohne ich mit einem wahren Madrileño zusammen, der 14 Jahre älter, gefühlte 140 Jahre weiser und 1400 Mal besser über spanischen Wahlkampf informiert ist. Als Liberal Arts and Sciences Studentin aus Freiburg musste (bzw. heute würde ich besser "durfte" sagen) ich in den ersten vier Semestern meines Bachelor-Studiums einige Philosophie-Kurse belegen. So sind weder Platon und Aristoteles, noch Hobbes und Locke, noch Kant oder Nietzsche Fremdwörter für mich. Oft fragte ich mich während des Lesens der vielen Texte von bedeutenden Philosophen, was mir das alles nun wirklich bringt. In gewisser Weise fand ich das Ganze spannend, aber als wirklich weiterbringend, habe ich den von mir auch gerne mal "Quatsch" titulierten Lesestoff, eher nicht empfunden.
Als ich jedoch an meinem ersten Abend mit E. auf unserer Dachterrasse saß, sprachen wir über dies und jenes bis wir uns schlussendlich in eine lange Konversation über Weltanschauung und den Einfluss von Religion auf diese, verstrickten. Aus dem „Quatsch“ entwickelte sich eine neue Welt, eine für mich reale Welt, die ich bisher aber so nicht verstanden hatte. Schon dieser eine Abend war in so vielfältiger Weise lehrreich. Ich entdeckte eine neue Faszination. Seitdem führen wir immer wieder Konversationen über Weltpolitik, über Moral, über Freudts Verständnis des Unterbewusstseins und den Einfluss dessen auf die Alltagsgestaltung eines jeden einzelnen, der wiederum Einfluss auf das Funktionieren und Nichtfunktionieren von Gesellschaften hat, auf Frieden und auf Krieg. Immer wieder ertappe ich mich nun dabei, Texte und Definitionen von Philosophen und Ethikern zu lesen.
Politik war schon immer ein mir wichtiges Thema, aber Philosophie hatte ich bis dahin als ein abgekapseltes, weltfremdes „Gerede“ abgetan. Manchmal, da sehe ich E. tagelang nicht; als Lehrer für Philosophie und Ethik an einer Privatschule ist seine Tagesstruktur eine andere als meine. Neben der Uni, nimmt der Sport, die Orchesterproben und die NGOs, für die ich arbeite, viel Zeit in Anspruch. Doch wenn wir uns sehen, dann schneidet meist einer wieder ein Thema an, meist geht es nur um eine kleine Frage oder um eine Einschätzung zu einer These über die einer von uns beiden gestolpert ist und so passiert's, dass wir bis tief in die Nacht philosophieren. Unsere Hausbibliothek wird während all dieser Gespräche öfter einmal durchsucht und sei es nur für ein kleines, in dem Moment, genau passendes Zitat. Meine Interessen an Musik, an der Flüchtlingspolitik, an der Friedens- und Konfliktforschung findet er so spannend wie ich seine Lieblingsthemen. So profitieren, so inspirieren wir uns gegenseitig - zwei Menschen die in vieler Hinsicht nicht unterschiedlicher sein könnten. In E. habe ich ein personifiziertes, inspirierendes wandelndes Lexikon gefunden. Danke!
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