Böhmische Dörfer
Wir sind unterwegs nach Prag. Von Chemnitz aus kommend, überqueren wir auf kurvigen Straßen das Erzgebirge. Verspielt schlängelt sich die B 174 immer weiter in die Höhen, einige Orte und Dörfer mitnehmend, Täler hinter sich lassend. Der Blick über die Bergketten reicht weiter und weiter, grüne, ausladende Höhenzüge wogen bis zum Horizont, unterbrochen von kleinen Laubwäldern. Dazwischen schieben sich hin und wieder einzelne Häuser und Gehöfte, immer seltener werdend, immer ferner liegend. Lange nicht mehr so viel Landschaft gesehen. Selten so wenig Menschen begegnet. Wir nähern uns Tschechien. Und treten erst einmal kräftig auf die Bremse.
Wir sind unterwegs nach Prag. Von Chemnitz aus kommend, überqueren wir auf kurvigen Straßen das Erzgebirge. Verspielt schlängelt sich die B 174 immer weiter in die Höhen, einige Orte und Dörfer mitnehmend, Täler hinter sich lassend. Der Blick über die Bergketten reicht weiter und weiter, grüne, ausladende Höhenzüge wogen bis zum Horizont, unterbrochen von kleinen Laubwäldern. Dazwischen schieben sich hin und wieder einzelne Häuser und Gehöfte, immer seltener werdend, immer ferner liegend. Lange nicht mehr so viel Landschaft gesehen. Selten so wenig Menschen begegnet. Wir nähern uns Tschechien. Und treten erst einmal kräftig auf die Bremse.
In Reitzenhain ist Stau. Über einen Kilometer lang stauen sich die Fahrzeuge, oft geht es Minuten lang nicht weiter. Auf den ersten Blick kein Ort, an dem man solches erwartet. Entlang der Straße stehen alte Backsteinhäuser, die auch schon einmal bessere Tage erlebt haben. Alte Holzbaracken trotzen mit letzter Kraft dem Wind, der über die Höhen streift, man meint, ihrem Zerfall beinahe zusehen zu können. Daneben schimmeln zwei Trabbis vor sich hin, beide in jenem Plastik-Grau, das man sonst nur bei den vergilbten Gartenstühlen verlassener Ausflugslokale kennt. Die Fahrlizenz ist ausgelaufen, die Deutsche Demokratische Republik ist stillgelegt. Stillgelegt, aber noch nicht abgeschrieben.
Grenzland ist Niemandsland. Das Grenzland zu Tschechien kämpft mit besonderen Problemen: Auf beiden Seiten raffen sich zwei postsozialistische Staaten mühselig aus dem Staub der Vergangenheit. Währende die alten keine großen Pläne mehr haben, ziehen die Jungen in die Städte. In Reitzenhain sieht man keine Kinder auf der Straße. Hier spielt die klassische Geschichte von der Landflucht, der Verlassenheit alter Dörfer, denen die Jugend davonläuft, weil ihnen die "Disko im Zelt, 1.6.2001, 20 Uhr" nicht mehr ausreicht und weil Städte wie Chemnitz, Dresden oder Berlin mehr versprechen. Weil das Leben keinen Spaß macht, wenn der nächste Gleichaltrige Kilometer entfernt wohnt und die Nachbarn kollektiv der Rentenschwelle entgegenaltern. Weil man eine Marathon-Etappe zurücklegen muss, um zum nächsten Kino zu gelangen, oder zur nächsten Buchhandlung. Mit 16 Jahren kauft sich die Jugend, die es in die Ferne zieht, die erste Freiheit in Form eines Motorrollers. Zwei Jahre darauf geht es mit dem Auto abends in die nächste Stadt, in der es Bars gibt, die auch nach Mitternacht noch Desperados ausschenken. Immer öfter fahren sie weg. Irgendwann kommen sie dann nicht mehr wieder.
Gerade feiert man hier das 600 Jahre-Jubiläum des Ortes. Überall im Ort gibt es Puppen. Von fern wirken sie beinahe lebensecht. Kommt man näher, stellt man fest, dass es Puppen aus Stroh und alten Kleidern sind, die zwischen Hauseingängen und an den Bürgersteigen aufgestellt sind. Die Reitzenhainer haben den Figuren Hemden angezogen und Hüte, Brillen und Schuhe, und sie haben ihnen sogar Frisuren gemacht. Da gibt es alte Männer, junge Kinder und Frauen, Omas und Mütter, kleine Gestalten und große, jede anders und einzigartig.
Es hätte alles so friedlich wirken können. Doch als Schutz vor dem Regen haben die Reitzenhainer ihre Puppenzwillinge in Plastikfolien gewickelt und dabei auch die Gesichter nicht verschont. Hinter dem halbtransparenten Kunststoff wirken die Gesichter starr und leblos. Es scheint, als sei der gesamte Ort von Leichen durchzogen und von Scheintoten. Überall hängen sie in den Vorgärten, vor den Fenstern der zerfallenen Häuser, in denen die Reitzenhainer leben, und das Leben rauscht an ihnen vorbei, auf der B 174.
Die Jugendlichen genießen eine Freiheit, wie sie ihre Eltern nicht kannten. Die können sich noch an jene Zeit erinnern, in der man den Grenzposten nicht fröhlich und erwartungsvoll überschritt, sondern mit Panzern und Gewehren. Das war im August 1968, als die DDR im Verbund mit der UdSSR Soldaten in die Tschechoslowakei einmarschieren ließ, um die Reformbewegungen unter der Führung von Alexander Dubcek zu beenden. In Prag war der Frühling ausgebrochen, und der real existierende Sozialismus hatte längst keine andere Antwort mehr als die pure Gewalt.
Die tschechischen Grenzbeamten wollen uns gar nicht erst anhalten. Touristen von deutscher Seite sind willkommen, schließlich rollt mit ihnen Geld ins Land. Wir sind gespannt, wie sich der Staat mit seiner sozialistischen Vergangenheit unter den neuen Geboten des Kapitalismus fortentwickelt hat, und rollen unter der geschichtsträchtigen Grenzschranke hindurch.
Auf der Landstraße fahren wir weiter Richtung Prag, vor uns eine weite Ebene, in der die Straße bis zum Horizont geradeaus führt. Kein Mensch weit und breit zu sehen, nur wenige Häuser, verstreut im Hier und Da. Die Sonne scheint flach über die Höhen des Erzgebirges, vom Westen her, und schickt ihr goldenes Licht in Richtung Osten, nach Prag, der Goldenen Stadt. Auf dem Land ist von ihrem Glanz nicht viel zu sehen. Keiner weiß, ob sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern wird.