Auf historischen Pfaden gewandelt!
Abends allein im tschechischen Nirgendwo, der Bus kommt nicht und das einzige Wirtshaus hat geschlossen: A_Waitler_in_Prag hatte einen abenteuerlichen Tag, aber es hat sich gelohnt!
Tschechische Landeskunde habe ich auch sonst noch auf sehr angenehme Art und Weise kennengelernt: durch zwei arbeitsfreie Staatsfeiertage. Ja, Tschechien hat da gleich zwei davon, zum einen den 28. Oktober, der an die Erlangung der Unabhängigkeit von Österreich-Ungarn durch die Ausrufung der Tschechoslowakei im Jahre 1918 erinnert, und dazu noch den 17. November.
Dieser Tag hält die Erinnerung an gleich zwei Ereignisse wach, die noch dazu miteinander verwoben sind:
Zuerst einmal an die Schließung aller Universitäten und die Ermordung eines tschechischen Studenten durch die Nazis am 17. 11. 1939 im damaligen Protektorat, woraufhin fünfzig Jahre später, 1989, Prager Studenten zu einem Gedenkmarsch aufriefen, der sich aber schnell zu einer Demonstration gegen das kommunistische Regime entwickelte.
Dagegen schritt die STB, die Statní Bezpečnost, also die Staatssichersicherheit der ČSSR und somit das Pendant zur ostdeutschen Stasi, brutal ein und knüppelte die friedlich demonstrierenden Leute einfach zusammen, was Hunderte von Verletzten verursachte und der Funke war, der alle Bürger auf die Straße trieb und die sogenannte Samtene Revolution auslöste.
Die wurde deshalb samten genannt, weil sie, im Vergleich mit anderen Ostblockstaaten, relativ gewaltlos über die Bühne ging, sodass noch im selben Jahr, am 29. Dezember 1989, Václav Havel als neugewählter Präsident der neue Herr auf der Prager Burg wurde.
Da es sich nun aber dieses Jahr auch noch um das zwanzigste Jubiläum dieser Freiheitsbewegung handelte, war im November eine hochinteressante Straßenausstellung in ganz Prag, vom Hradschin bis hinunter zum Wenzelsplatz, zwölf Stationen, die die tschechoslowakische Geschichte vom Zweiten Weltkrieg bis zum Fall des Eisernen Vorhangs zum Thema hatte, was ich mir natürlich nicht entgehen ließ.
Als ich an diesem 17. November in der Innenstadt war, ist mir auch etwas sehr überraschendes passiert. Auf dem Platz vor einer Metrostation waren ein paar Stände aufgebaut, auf denen, wie ich meinte, wohl Informationsmaterial über die Samtene Revolution oder etwas Ähnliches verteilt wurde.
Und als ich mich an einem dieser Stände umsehe, kommt plötzlich ein unscheinbar gekleideter Mann mittleren Alters dazu und auf einmal, von einer Sekunde auf die andere, strömen alle Leute auf dem gesamten Platz hinzu, mit Autogrammkarten, Büchern und anderen Dingen, die sie signiert haben wollten.
Da war ich gleich ein wenig verwirrt von diesem Menschenauflauf und hab dann halt auf diese Bücher – sie hatten alle das gleiche – geschaut, und tatsächlich: Der Mann auf diesen Büchern war derselbe Mann, der zwei Meter vor mir stand!
Es handelte sich um Jiři Paroubek, den Vorsitzenden der ČSSD, der Sozialdemokratischen Partei Tschechiens und mithin einer der wichtigsten Politiker des Landes. Daraufhin hab ich mir natürlich auch eines dieser kleinen Bücher, das er geschrieben hat und die kostenlos verteilt wurden, genommen und mir ein Autogramm geholt.
Auch im Dezember war ich wieder viel unterwegs: So war im Rahmen meines Dienstes bei einem "Come in"-Wochenende, diese Art Einkehrtage für junge Männer von so 20 bis 25 Jahren, die in einem kleinen Dorf in Mitteltschechien, an der historischen Grenze zwischen den beiden Landesteilen Böhmen und Mähren, stattfanden.
Diese Veranstaltung bestand aus interessanten Vorträgen, Gebeten und auch einem Spiel im Wald – das ist typisch salesianisch: Keine Salesianeraktion, bei der nicht auch etwas gespielt wird! :-) Wie schon gesagt, da war ich dienstmäßig und hab halt wieder etwas Papierkram zu erledigen gehabt sowie beim Auf- und Abbauen mitgeholfen.
Freiwillig bin ich dann an einem anderen Wochenende zum sogenannten "Adven´t stop" mitgefahren, bei dem vor allem Jugendliche aus der Pfarrei bei uns in Prag-Kobylisy dabei waren.
Dabei fuhren wir mit dem Zug nach Hradec Králové, zu Deutsch Königgrätz, einer Großstadt mit ungefähr 100.000 Einwohnern, wo wir im dortigen Haus der Salesianerschwestern, des weiblichen Ordenszweigs, untergebracht waren.
Entsprechend dem Namen handelte es sich dabei um ein Adventswochenende, das auf Weihnachten einstimmen sollte, beispielsweise indem wir uns mit dem Anfang des Lukasevangeliums befassten, wo Johannes der Täufer das Kommen des Messias Jesus Christus ankündigt.
Des Weiteren verbrachten wir unsere Zeit mit einer Diskussion, einem Spaziergang ins Stadtzentrum, Beten, Kicker spielen und einem Film, "The Climb", was ich gehört hab, so ziemlich DER christliche Film überhaupt.
Ein Grund, warum ich zu dieser Veranstaltung mitgefahren bin, war aber auch, dass sie eben in Hradec Králové stattfand, in Königgrätz. Königgrätz! Jeder, der sich auch nur halbwegs für die deutsche Geschichte interessiert, muss bei diesem Stichwort aufmerken, wenn nicht gar in seinem Innersten erzittern.
Königgrätz! Denn dort fand 1866 die entscheidende Schlacht im Deutschen Bruderkrieg statt, in dem Preußen Österreich besiegte und daher im wenig später gegründeten Deutschen Reich das Sagen hatte.
Und natürlich ließ ich es mir nicht nehmen, diese historische Stätte aufzusuchen. Die Schlacht fand etwas außerhalb Königgrätzs statt, beim ebenfalls dafür berühmten Ort Sadová, wohin ich mich am Sonntagnachmittag, als die anderen schon nach Prag heimfuhren, noch auf eigene Faust aufmachte.
Der Fahrer des Buses dorthin hat mir aber gesagt, dass sich in irgendeinem kleinen Dorf dazwischen ein Museum befindet. Daher bin ich, seinem Rat folgend, irgendwo an der Landstraße, fernab von jedweder Haltestelle, ausgestiegen und bin noch circa einen Kilometer zu Fuß zu einem Dorf namens Chlum gegangen, wo ich, den Hügel, auf dem es liegt, erklimmend, schon von weitem ein denkmalähnliches Gebilde erkennen konnte, mit dem ich schon am Ziel angelangt zu sein meinte.
Tatsächlich hat sich in diesem Örtchen die Schlacht endgültig entschieden, da das vereinigte österreichisch-sächsische Heer bei dem Versuch, diese strategisch wichtige Anhöhe, von der aus die preußische Artillerie die feindlichen Stellungen kurz und klein schießen konnte, zurückzuerobern, innerhalb von zwanzig Minuten 10.000 Mann an Gefallenen, Vermissten, Verwundeten und Gefangenen verloren hat.
Aber wie sich herausstellte stand ich nicht vor dem einzigen Monument, das an jenen schicksalshaften 3. Juli 1866 erinnerte, sondern ein ganzer Lehrpfad handelte davon, an dem alle paar hundert Meter irgendwelche kleinen Gedenksteine für gefallene Soldaten und Informationstafeln standen, die ich, da das Museum natürlich akkurat zu war, fast alle abklapperte.
So kam ich – es war mittlerweile fünf Uhr nachmittags und schon stockfinster – an die nächste Bushaltestelle. Ich hatte mich aber eigentlich darauf eingestellt, anfangs nach Sadová zu fahren und von da aus mit dem Zug wieder zurück nach Königgrätz, von wo aus ich natürlich problemlos wieder zurück nach Prag fahren könnte.
Jetzt war ich aber gar nicht bis nach Sadová gekommen, sondern stand irgendwo im nordostböhmischen Nirgendwo, wo erst wieder in gut einer Stunde der letzte Bus des Tages kommen würde. Gut, dass da neben der Haltestelle ein Schild ein nahegelegenes "restaurace" anpries – das sich bei nähergehender Untersuchung natürlich ebenfalls als geschlossen herausstellte.
Da hieß es also warten. Weil ich aber schon den ganzen Nachmittag draußen unterwegs war und bereits dementsprechend unterkühlt den unaufhörlich sich über mich ergießenden Nieselregen und den mir unbarmherzig durch die Glieder ziehenden "böhmischen Wind" – so nennt man bei uns daheim in der bayrisch-tschechischen Grenzregion einen ebenso ungemütlichen Ostwind – ertragen musste, weitete sich mein Geschichtstourismus auf einen weiteren meiner fünf Sinne aus – auf mein Kälteempfinden.
So konnte ich mir die Atmosphäre dieses Kampfes, der in dieser hügeligen Landschaft ja ebenfalls bei schwerem Regen stattfand, noch ein kleines bisschen mehr vorstellen – ein Erlebnis, auf dass ich alles in allem aber auch verzichten hätte können.
So harrte ich also des Busses, der da um 17.55 Uhr kommen sollte. Wie gesagt – sollte. Denn kein Autobus kam, um mich von meinen Qualen zu erlösen, auch nicht fünf Minuten, auch nicht zehn Minuten später, und da war ich dann schon ziemlich verzweifelt, da laut Fahrplan erst wieder am kommenden Morgen ein Bus nach Hradec Králové fahren würde.
Den Daumen auszustrecken und darauf zu hoffen, per Anhalter fahren zu können, stellte sich angesichts der Dunkelheit und der Geschwindigkeit der auf dieser Landstraße heranbrausenden Autos als zwecklos heraus, und ich stand schlicht und einfach mitten in der Pampa! In einem Kaff mit einem einzigen Wirtshaus, das natürlich nicht geöffnet hatte!
Sollte ich wie Maria und Josef auf Herbergssuche gehen müssen, von Haus zu Haus, an jeder Tür klopfen? Nein, denn entgegen all meiner Befürchtungen gewahrte ich schließlich um 18.10 Uhr, also mit einer geschlagenen Viertelstunde Verspätung, die großen Umrisse und die Lichter eines Autobusses, die mich angesichts meiner vorherigen Hoffnungslosigkeit beinahe an den Anfang der Weihnachtslesung aus dem Buch des Propheten Jesaja erinnerte:
"Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht; über denen, die im Land der Finsternis wohnen, strahlt ein Licht auf." (Jesaja 9,1)
In diesem Bus konnte ich mich dann endlich, endlich wieder aufwärmen, fuhr nach Hradec Králové und von dort aus mit dem Zug nach Prag, wo ich erst spätabends ankam.
Aber trotz all dieser Strapazen hat sich dieser Ausflug für mich gelohnt: Ich bin auf historischem Boden gewandelt!
Ich war in Königgrätz!
Und was ich sonst noch so alles erlebt habe, könnt ihr in meinem nächsten Beitrag "Von Krankheiten und Weihnachtsfeiern" nachlesen.
Na gut, zugegeben, Weihnachten ist mittlerweile schon vorbei, aber weil's so schön ist, noch ein paar weitere dieser herrlichen poetisch-prophetischen Worte, übrigens eine der wenigen längeren Bibelstellen, die ich auswendig beherrsche, da ich sie als Lektor in meiner Heimatpfarrei in den letzten Jahren an Weihnachten immer vortragen durfte:
"Denn wie am Tag von Midian zerbrichst du das drückende Joch, das Tragholz auf unserer Schulter und den Stock des Treibers. Jeder Stiefel, der dröhnend daherstampft, jeder Mantel, der mit Blut befleckt ist, wird verbrannt, wird ein Fraß des Feuers. Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns geschenkt. Die Herrschaft liegt auf seiner Schulter; man nennt ihn: Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens." (Jesaja 9, 3-5)
Auslandsadresse:
Christoph Mauerer
Salesiánská asociace Dona Boska, o.s. (SADBA)
Kobyliské nám. 1, 182 00 Praha
Česká Republika
Skype: christoph-mauerer