Alternativ in der Provinz
Wer seine Schulzeit in einer Waldorfschule verlebt hat, der muss sich auch in Deutschland oft standhaft gegen Forderung wehren, seinen Namen vor zu tanzen oder wird zumindest milde belächelt.Französische Waldorfabsolventen allerdings stehen ganz anderen Vorurteilen gegenüber. Eine Bericht aus der Provinz.
Pau ist die Hauptstadt des Departements Pyrénées- Atlantiques, liegt also am Fuß der Pyrenäen und nicht weit der Atlantikküste. Auch Spanien ist nur 40 Kilometer entfernt und das Wetter dementsprechend mild. In den vergangenen Jahrhunderten war das warme und feuchte, ideal gelegene Städtchen deshalb ein beliebtes Ziel des erholungssuchenden europäischen Adels. In Richtung der Pyrenäen grenzt an Pau das kleine Jurançon, vor allem bekannt für seinen gleichnamigen Wein, den typischerweise aus besonders kleinen, süßen Trauben gewonnen weißen Jurançon.
Und auch wer in Sachen Bildung auf der Suche nach dem Außergewöhnlichem ist, kommt in dem idyllischen Örtchen auf seine Kosten, befindet sich doch hier meine Einsatzstelle, der kleine „Jardin d’Enfants l’Arc-en-Ciel“. Der „Kindergarten Regenbogen“, ist einer der wenigen französischen Waldorfkindergärten, eine kleine Attraktion in der Provinz. Schon der Begriff, „Jardin d’Enfants“, der einfach wörtlich aus dem deutschen übersetzt wurde, stößt bei vielen Franzosen auf Unverständnis. ‚Ein Garten der Kinder? Bedeutet das, ihr gärtnert?‘ Naja. Das zwar auch, aber das ist nicht der Punkt. In Frankreich wird ein Kind mit zwei bis drei Jahren in aller Regel in die „école maternelle“, eine „mütterliche Schule“, eingeschult. Diese Ganztagesschulen für die Kleinsten sind kostenlos, die Lehrer werden vom Staat bezahlt. Und wer noch zu klein fürs école ist, der wird meist von einer Tagesmutter, der „Nounou“ betreut – was steuerlich absetzbar ist. So gibt es wesentlich mehr erwerbstätige französische Mütter als deutsche, sagt die Statistik. Den Vorwurf, deshalb ‚Rabenmütter‘ zu sein würde hier niemand in den Raum stellen, vielmehr berichten jene Eltern, die ihr Kind bis zum dritten oder vierten Lebensjahr nur vormittags betreuen lassen, auf großes Unverständnis und teils bürokratische Hindernisse gestoßen zu sein.
Auch gibt es Eltern, denen die „écoles maternelles“ nicht kindgerecht genug und bereits zu leistungsfixiert erscheinen. Tatsächlich, so erzählt man mir, werden schon dreijährige ‚benotet‘, mit einem lachenden oder weinenden Gesicht auf dem Papier. Etwa 20 Prozent aller französischen Eltern weichen da aus, schicken ihre Kinder auf Privatschulen. So wollen sie mehr für ihr Kind erreichen: die einen sehen sich nach einfühlsamerer Betreuung, die andreren danach, ihr Kind aus der Masse von Frankreichs Gesamtschulen herauszuheben und ihm vielleicht bessere Chancen zu verschaffen, später an einem renommierten „grandes écoles“ aufgenommen zu werden.
Beispielsweise gibt es zahllose Privatschulen in kirchlicher Trägerschaft, wen das allerdings nicht anspricht, für den ist vielleicht der „Jardin d’enfants“ etwas: die Waldorfpädagogik, die hier nach ihrem Erfinder Rudolf Steiner „pédagogie Steiner“ genannt wird, bietet vielen Familien einen Alternative. Die Nachfrage ist groß, die Kapazitäten des Jardin d’Enfants sind ausgereizt. Und das, obwohl die „Steiners“ in Frankreich wesentlich weniger etabliert sind als in Deutschland, Während die alternative Lehrweise auch hier oft belächelt wird, hat Waldorf in Frankreich den Ruf geradezu eine Sekte zu sein. Auch wem das Konzept ein Begriff ist, der hat oft die groteskesten Vorstellungen vom Schulalltag. Das Wedeln mit bunten Seidentüchern, Eurythmie, der berühmt-berüchtigte Ausdruckstanz bei dem die Kinder, nein, in diesem Alter zumeist noch keine Namen, dafür aber Blumen tanzen und die vegane Mittagsküche mögen vielen suspekt erscheinen. Die Herkunft der Kinder ist dabei ganz unterschiedlich: manchen wurde Steiner schon mit ins selbstgefilzte Babytuch gelegt, andere sind völlig milieufremd, die Eltern wurden vom traumhaften Betreuungsschlüssel (auf 10 bis 12 Kinder kommen jeweils eine Erzieherin und eine Freiwillige) gelockt und der größeren Entwicklungsfreiheit, die sie sich für ihr Kind erhoffen.
Das freie Spiel, was für mich selbst im Kindergarten ganz selbstverständlich war - und es in den „écoles maternelles“ in diesem Maß wohl nicht ist- bildet hier den viel beschworenen Eckpfeiler des pädagogischen Konzeptes. Jedes Kind soll sich in seinem eigenen Tempo entwickeln dürfen - auch wenn das in der Praxis dann eine Menge Windeln wechseln bedeutet, denn wer sich in seinem eigenen Tempo entwickelt muss dann im Kindergarten auch noch nicht sauber sein. Aber bei aller „freien Entwicklung“ und den pädagogisch wertvollen Programmen wie dem wöchentlichen Brotbacktag (Dienstags bei den Kleinen, Donnerstags bei den Großen), stehe ich doch sprachlos und zutiefst beeindruckt vor zweieinhalb Jährigen, die schon jetzt längere Schultage haben als ich im Jahr meines Abiturs. Denn die Betreuungszeiten entsprechen denen der staatlichen Einrichtungen und beginnen damit um 8.30 Uhr und enden spätestens um 17.30 Uhr, so dass sogar wir Angestellten und Freiwilligen uns den Tag im Schichtenmodell unterteilen.
Dafür wird in den kleinen Gruppen ein familiärer Rahmen geschaffen, und familiär, das trifft es wirklich. Die alternative Gemeinde in Pau ist nicht allzu groß, man kennt sich, man ist befreundet, hilft sich gegenseitig beim Umzug, trifft sich im Vegetarischen Restaurant und auf dem Biomarkt. Man ist eine große Familie, da werden nicht selten sogar Mitarbeiter des Waldorfkindergartens werden aus den Reihen der Eltern rekrutiert. Mülltrennung und Bioprodukte, die bei uns aus dem Alltag nicht mehr weg zu denken wären, wachsen in Frankreich gerade erst aus den Kinderschuhen. (Der Deutsche gibt im Jahr 86 Euro für organische Produkte aus, der Franzose nur 61) Die Biosortimente in den Supermärkten sind vergleichsweise klein, und auf allen Seiten entsteht der Eindruck dass nachhaltig Leben unumgänglich mit selbstgehäkelten Klamotten, weiten Röcken und Räucherstäbchen verbunden ist. Neidisch schielt man nach Deutschland, in die Heimat von Weleda und Rapunzel. Etwa die Hälfte aller Produkte im Kindergarten sind deutsche Importe, von den veganen Gemüseaufstrichen über das bunte Bienenwachs als Knetmassenalternative, die Aquarellfarben und die Wachsmalblöcke, sämtlichst von der deutschen Marke „Stockmar“ und mit dem Weleda Entspannungs-Lavandelöl werden wohl weltweit Waldorfkindern vor dem Mittagsschlaf Hände oder Füße massiert.
Aber auch in Frankreich ist die Bio-Bewegung dabei sich ihren Platz im gutbürgerlichen, französischen Mittelstand zu machen, ist so sehr auf dem Vormarsch, dass vielleicht auch die französischen „Steiners“ bald ihren Exotenstatus ablegen und selbstbewusster werden können. So hoffen die Eltern, auch damit die Kinder es später mit dem Wechsel auf andere Schulen leichter haben.