Alltagsausbruch
Selbst im Laufe eines Auslandaufenthaltes kommt es dazu, dass irgendwann einmal der Alltag ausbricht. Bevor man jedoch hinter den grauen Mauern der Monotonie versauert, muss man das Fenster zum Alltagsausbruch nutzen.
Wie leicht zugänglich dieses Fenster ist, lässt sich genau dann feststellen, wenn man zu einem der drei Busbahnhöfe Chişinăus geht. Große, kleine, alte und sehr alte Busse stehen hier nebeneinander. Chişinău – Bukarest, Chişinău – Kiew, Chişinău – Moskau, Chişinău – Istanbul…die Schilder hintern den Windschutzscheiben lassen Fernweh aufkommen (vor allem wenn man dabei die elend langen Fahrtzeiten vergisst). Doch an all diesen verlockenden Angeboten vorbei verschlägt es uns zu einem kleinen Bus. Iaşi – jedem der über den Osten Rumäniens nur zum Teil geographisch aufgeklärt ist, dürfte diese Stadt kein Begriff sein. Doch genau dieser Name steht in schwarzen Lettern auf dem Pappschild, das mit Saugnäpfen am Fenster befestigt, während der Fahrt bedächtig hin und her schaukelt und das Ziel unserer Fahrt angibt. Als nächste Stadt nach der moldawisch-rumänischen Grenze und bedeutende Universitätsstadt bietet es sich an, ein Wochenende dort zu verbringen. Außerdem muss mein spanischer Mitbewohner vor Ort einen Englischtest schreiben. Von der Grenzpolizei kontrolliert und durch ein Schild höflich dazu aufgefordert, doch bitte keine Tierkrankheiten in die EU einzuführen, erreichen wir Iaşi. Dort treffen wir unseren Couch-Surfing-Gastgeber und gehen mit ihm in seine sehr stadtnahe Wohnung. Der Nachmittag erwartet uns mit einem Gang durch die Innenstadt, die immer wieder ihren alten Glanz aufblitzen lässt. Man merkt, dass viel Geld investiert wird und wurde, um die vielen schönen Gebäude der ehemaligen Hauptstadt Rumäniens (1859-1862, 1916-1918) zu renovieren. Unter anderem kann man hier das Hotel Traian, entworfen von Gustave Eiffel, oder den sogenannten Kulturpalast bestaunen. Eben hinter diesem neogotischen und prunkvoll-kitschigem Schloss steht das in den letzten Jahren wohl am meisten diskutierte Bauwerk der Stadt. Auf einem riesigen Gelände wurde die Einkaufs- und Unterhaltungslandschaft „Palas Mall“ aus dem Boden gestampft. Selten habe ich ein Stadtbild innerhalb der letzten zehn Jahre – wie uns unser Gastgeber versicherte – so sehr verändert gesehen. All diese Bauwerke zeigen, dass Iaşi mitten in einer Entwicklung steht, die klar mit der Mitgliedschaft Rumäniens in der EU verknüpft werden kann. Vieles, das in Chişinău noch angefangen werden muss, ist hier schon geleistet worden. Doch trotzdem steht auch hier die Armut vieler Menschen im extremen Kontrast mit den schmucken Fassaden. Beim Anblick vieler bettelnder Kinder stellt sich die Frage, ob das Geld hier an der richtigen Stelle investiert wurde. Die Stadt hat großes vor. Sie will Kulturhauptstadt Europas 2021 werden. Allein die Kulisse der Stadt wird dazu nicht ausreichen.
Am Abend widmen wir uns dem Studentenleben der Stadt und besuchen ein Konzert der rumänischen Band „Kumm“, die mit ihrer Mischung aus Rock und Jazz schnell mein Herz, oder eher meine Ohren gewinnt. Trotz des recht hohen Bekanntheitsgrades in Rumänien treffen wir zur späten Stunde die Mitglieder der Band in einer Studentenkneipe und kommen mit ihnen ins Gespräch. Die Zeit vergeht wie im Flug. Die Nacht war kurz und dementsprechend wird lange geschlafen. Doch die Sonne zieht uns nach draußen und wir genießen einen ruhigen Tag in der Innenstadt. Bei einem nur kurzem Aufenthalt in einer Stadt ist es immer das beste, so viel wie möglich zu erlaufen, um ein Gefühl für die Örtlichkeiten zu bekommen. Und nach einem langen Spaziergang durch unterschiedliche Gegenden und nur zwei Tagen fern der Hauptstadt Moldawiens ist der Alltagsausbruch gelungen. Bevor die grauen Mauern Chişinăus den Alltag wieder ausbrechen lassen, wird wieder eine lange Zeit kurz vergehen.
Im März führen wir in meinem Projekt wieder ein kleines Tanz-Theaterstück auf und hoffen, dass wir damit den Frühling begrüßen können. Bis dahin muss noch viel geprobt werden und vorbereitet werden. Darüber kann ich dann mehr erzählen.